Buch: „Fast ein Familie“ von Bill Clegg

Bill Clegg ist amerikanischer Literaturagent und seit einigen Jahren auch Autor. In seinen autobiographischen Erinnerungen „Portrait of an Addict as a Young Man“ (2010) und „Ninety Days“ (2012) thematisierte er seine eigene Drogensucht. 2015 hat Clegg mit „Did you ever have a family“ sein Romandebut vorgelegt. Im Frühjahr 2017 erschien der Text als gebundenes Buch in deutscher Übersetzung (von Adelheid Zöfel) bei S. Fischer. Es ist ein starker und herausragender Roman.

Erzählt wird die Geschichte einer furchtbaren Familientragödie. In den frühen Morgenstunden am Tag einer geplanten Hochzeitsfeierlichkeit werden das Brautpaar und weitere Angehörige von einer Explosion im Haus und einem Feuer überrascht und kommen dabei alle zu Tode. Die Umstände selbst sind Anfangs noch unklar, Stück für Stück fügen sich die Puzzleteile jedoch zu einem Bild zusammen. Im Zentrum stehen dabei June Reid, die Hausbesitzerin und Mutter der Braut, Lydia Morey, Mutter von Junes im Feuer umgekommenen Geliebten Luke und der jungendliche Kiffer Silas aus der Nachbarschaft. Die einzelnen Kapitel sind mit den Vornamen einzelner Beteiligter übertitelt und jeweils aus deren Sicht beschrieben. Dabei wechseln nicht nur die Betrachtungswinkel, sondern immer wieder auch die Erzählperspektiven. Einige Kapitel erscheinen als Ich-Erzählung, andere stammen von einem allwissenden Erzähler. Von zentralen Figuren gibt es über das gesamte Buch verteilt mehrere Kapitel, die ihre Entwicklung dokumentieren, andere Figuren tauchen nur ein einziges Mal auf.

Die Katastrophe als eigentlicher Auslöser der Geschichte ist das stille Auge des Orkans. Die näheren Umstände werden im Verlauf angedeutet, gehören aber nicht zum wesentlichen Kern der Erzählung. Vielmehr geht es in episodenhafter Form um die Entwicklung einzelner Charaktere, die feinen Beziehungen innerhalb der Patchworkfamilie und die gesellschaftliche Vorgeschichte der amerikanischen Kleinstadt. Nicht nur Inhalt, auch die wechselnden Perspektiven der Erzählweisen und die shortstoryartigen Einzelkapitel stehen erkennbar in der Tradition US-amerikanischer Autoren wie Jean Toomer, Ernest Hemingway, William Faulkner und John Steinbeck, an denen sich auch zeitgenössische Schreiber wie Donald Ray Pollock oder Willy Vlautin orientieren.

Die Figur des jungen Mannes und Bräutigams Will fungiert deutlich als Alter Ego des Autors. Im Roman stammt er, wie Clegg selbst, aus einer Familie mit vier Kindern, hat in Washington studiert, offenbart eine spirituelle Veranlagung, steht aber insgesamt nicht im Mittelpunkt der Betrachtung. Nach zwei autobiographisch geprägten Veröffentlichungen war so was freilich erwartbar, fügt sich jedoch problemlos, ja, bereichernd in den Text ein.

Clegg erzählt seine Geschichte klug und ergreifend. Er beweist kompositorisches Geschick und besonderes Einfühlungsvermögen, insbesondere auch weil die Hauptfiguren allesamt weiblich sind. Sein Stil ist geschliffen und hat durchgehend literarische Qualität. Freunde amerikanischer Erzählformen dürfen sich freuen. Ein beeindruckendes Romandebut und eine wunderbare Entdeckung. Man darf gespannt sein, was da noch kommt!

Das gebundene Buch erscheint bei S. Fischer, hat 316 Seiten und kostet 22 Euro.

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