Lent & some guilty pleasures (KW10-15 2017)

Die 40-tägige Fastenzeit habe ich als Nicht-Christ wie jedes Jahr zur Besinnung genutzt. Ich habe komplett auf Alkohol verzichtet, wenig Fleisch und Süßes gegessen und habe mich regelmäßig bewegt (Rad, Laufen, Spaziergänge). Von Mo-Fr habe ich einen neuen Arbeitsplan verfolgt: Schreiben für den Blog ab 8:00, danach Schüler oder Üben am Instrument, kleines Mittagessen, Zeitung lesen, Bewegungseinheit, Aufnahmen oder Unterricht bis zum späten Nachmittag. Lief gut, werde ich wohl bis auf weiteres beibehalten. Einige sündige Aktivitäten habe ich in den letzten Wochen ebenfalls mit großem Arbeitseifer ausgeübt.

Schon immer höre ich gerne die frühen Einspielungen des US-amerikanischen Countrypianisten Floyd Cramer, insbesondere natürlich „Last Date“, „Flip Flop & Bop“ oder „San Antonio Rose“. Bisher besaß ich nur eine „Best of“-Kompilation auf CD. Ende letzten Jahres habe ich mir die Wiederauflage des regulären Albums „Hello Blues“ (1960, 1995), produziert vom legendären Chet Atkins, gekauft. Anfang des neuen Jahres fand ich dann heraus, dass Cramers Enkel Jason Coleman den berühmten „Slip Note“-Style noch direkt von seinem berühmten Großvater erlernt hat (das belegen u.a. auch einige gemeinsame öffentliche Auftritte z.B. auf Youtube) und das Notenheft „The Piano Magic of Floyd Cramer“ veröffentlicht hat. Das habe ich in den USA bestellt und seit es da ist spiele ich fast jeden Tag die zugegebenermaßen etwas kitschigen, aber wunderbar eingängigen Pianosoloarrangements. Die Slip-Note-Technik ist nicht schwer, aber klanglich sehr charakteristisch, aufgrund der Mehrstimmigkeit und den üppigen Arrangements der Originaleinspielungen nicht immer exakt raushörbar und hängt auch eng mit dem gewählten Fingersatz zusammen. Jetzt checke ich die Grundstruktur nach Notation, lerne es auswendig und lass es dann laufen und beobachte dabei meine Finger für geschmeidige Slips and Lagenwechsel. Demnächst werde ich wohl was eigenes in dem Stil arrangieren, evtl. auch schreiben und hoffentlich auch mal in einer zukünftigen Einspielung einsetzen können.

Dann habe ich weiterhin an den Arrangements für das geplante Minialbum „Iconic Popsongs of 1980s in 88bpm“ gearbeitet. Von fünf Songs sind mittlerweile drei fertig arrangiert und zwei weitere zumindest skizziert. Die Sängerin ist aufgrund einer Erkältung etwas in Verzug, wird aber nach den Ferien ihre Parts wohl rasch reinarbeiten. Die Beschäftigung mit den zur Entstehungszeit nicht sehr gut gelittenen 80er-Jahre Song hat für mich aus irgendeinem immer noch ein G’schmäckle. Kann gar nicht sagen warum, muss irgendwo im Unterbewussten liegen, tut mir aber gut die Songs unter den billigen 80er-Arrangements freizulegen und mit eigenen konzeptuellen Mitteln neu zu interpretieren. Ist für mich persönlich subversiver als ein Jazzstandard, Protestlied oder ein Punksong.

Und schließlich arbeite ich seit Wochen intensiv an den Aufnahmen für das geplante Tributalbum „Messin’ around with Jim Croce“. Schlagzeug und E-Bass waren bereits eingespielt, mittlerweile stehen Rhythmusgitarren, Gesänge und zusätzliche Instrumente.
Als essentieller Bestandteil und spiel-technische Herausforderung hat sich dabei die zweite Gitarre, im Original eingespielt von Maury Muehleisen, herausgestellt. Wenn man, wie ich im Laufe der Produktion, alles bis auf diesen Part sauber und ordentlich einspielt, fehlt immer noch ein wesentlicher Bestandteil des Arrangements. Mit wurde erst jetzt klar, was für einen enormen kompositorischen Beitrag Muehleisen da in jungen Jahren geleistet hat. Kein Wunder, dass sich angeblich auch die ausgebufften Studiomusiker der Countryszene in Nashville damals gefragt haben, was dieser Mann da in ziemlicher Obskurität nebenbei aus dem Ärmel geschüttelt hat. Zu allem Überfluss hat er sich lange Zeit eigentlich als Songwriter, Sänger und Pianist verstanden und ist nur notgedrungen Leadgitarrist bei Croce geworden, weil sein eigenes Debutalbum („Gingerbread“, 1970), komplett erfolglos war.
Erst dachte ich, es reicht sich das Intro und ein paar zentrale Licks von den Aufnahmen zu klauen, denn Solos spielt er so gut wie keine. Aber schnell wurde klar, dass das nicht reicht. Also habe ich alle Fills der ersten Strophen transkribiert und dann festgestellt, dass sich einige Licks an entsprechenden Stellen wortwörtlich wiederholen, andere aber konsequent frei gespielt wurden. Je intensiver man sich damit befasst, desto komplexer, aber auch geordneter wird die Struktur und das gilt im Grunde für jeden Song aller Einspielungen der entstandenen drei Alben. Man muss dabei bedenken, dass Croce und Muehleisen diese drei Alben mit insgesamt knapp 40 Songs in gerade mal zwei Jahren geschrieben, arrangiert und eingespielt haben. Dabei jedem Song ein charakteristisches Arrangement zu verpassen, das die Zeit schadlos überdauert, ist schon eine erstaunliche Leistung. So sehr man sich heute darüber freuen kann, so traurig ist, dass die beiden kurz nach den Einspielungen, während der Tour mit dem Flugzeug abstürzten und dabei ums Leben kamen. Was hätte da noch kommen können?

Die Fills von Muehleisen basieren zum großen Teil auf einer Skalenform in einem Fingersatz (Boxform), angereichert mit Slides und Bends. In den Chorussen spielt er meist eine aufsteigende, einstimmige Melodielinie gegen die Gesangsmelodie, die sich zwar im Hintergrund bewegt, aber ordentlich Spannung aufbaut. Wenn er begleitet spielt er fast immer mit Capo im fünften oder siebten Bund, während Croce ohne Capo in der unteren Lage fingerpickt. Zusammen ergibt das ein feingliedriges und klangvolles musikalisches Gewebe mit viel Frequenzspektrumund Obertönen. Im Mix wurden die Gitarren knallhart links/rechts gelegt und sind daher extrem voneinander abgegrenzt. Beim Raushören ist mir außerdem aufgefallen wie brutal laut das Master rauscht, das ist eigentlich schon ein unbeabsichtigter, aber konstituierender Bestandteil des Mixes. Auch die Räume auf den Gesängen sind besonders und markant, könnte sein, dass das der Naturraum des Studios ist, evtl. auch einfache Plates, schwer zu sagen, würde mich mal interessieren. In den Äußerungen des leitenden Produzenten Tommy West gibt es dazu keine Angaben.

Die Fastenzeit geht nun zu Ende, die Besinnung lasse ich mal im neuen Modus weiterlaufen. Und ganz so sündig wie es sich anfühlt sind meine guilty pleasures gar nicht. Hat auch was schönes, wenn man die musikalischen Mysterien seiner Kindheit und Jugend als Erwachsener noch schätzen und ein paar Geheimnisse lüften kann. Man muss sie ja nicht gleich verstehen wollen. Wenn ich jetzt „Last Date“ hören will, gehe ich nicht mehr zum CD-Player, sondern setze mich ans Klavier, klappe den Deckel hoch und greife in die Tasten. Meine Kinder sitzen dabei manchmal auf dem Sofa und summen die Melodien leise mit.

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