Reise: Tales of Tallinn

Gestern bin ich frueh (6.00) von einem Schnarcher im 8er-Schlafsaal geweckt worden, vermutlich nicht nur ich. Was ist der politisch korrekte Weg sich hier zu verhalten? Keine Ahnung, ich blieb noch etwas im Bett liegen, hoffte darauf, dass es vielleicht wieder aufhoert, irgendwann war’s etwas besser, aber da war ich laengst hellwach. Also aufstehen, duschen, anziehen und ein fruehes Fruehstueck mit Francesco, der in seiner Funktion als Hostelhelfer gerade Brot und Milch fuer die ganze Kompanie besorgt hatte.

Dann Fotos raussuchen, Blogartikel schreiben, fertig machen, aber ich kam nicht richtig in die Gaenge. Genau zur Halbzeit meines Tripps hatte ich Motivationsprobleme und hing unproduktiv im Hostel rum. Schliesslich suchte ich mir eine vorgeschlagene Erlebnistour aus meinem Tallinn-Reisefuehrer (Marco Polo) raus und lief den etwas genervt ab. War aber gar nicht so verkehrt, mal abgesehen davon, dass sich nach dem muehseligen Aufstieg auf die Kirchturmspitze von Oleviste (“phantastischer Ausblick”) der Akku meines Fotosapperats verabschiedete, immerhin, fuer 2-3 Bilder hat’s gerade noch gelangt. Bin dann kurz zum Hostel zurueck um meinen Akku und den des Fotoapperats etwas aufzuladen. Nachmittags Erlebnistour Nr.2. Ein kleiner Rundgang durch das “up & coming”-Stadtviertel Kalamaja, ganz nett. Am Ende warten Foodtrucks in einem umfunktionierten Gueterbahnhof (Depoo), daneben ein Lebensmittelmarkt und auf der anderen Seite Design und Interior, auch nett.

Spaeter bin ich dann raus zum Schlosspark Katharina, das Kunstmuseum machte mir vor der Nase die Tueren zu, aber spaeter war noch ein klassisches Konzert angesetzt. Ich ueberbrueckte die Zeit dazwischen mit einem Sonnenbad im Schlosspark, um 19.00 startete das Konzert, genau genommen ein Abschlussexamen fuer die Cembalistin Kristiina Are. Im weissen Barocksaal des Schlosses spielte sie franzoesische Barockstuecke, solo und mit Ensemble. Dass ich so frueh geweckt worden war, raechte sich jetzt bitter. Das leise und gleichfoermige Gedudel und Getriller der Suitensaetze von Louis und Francois Couperin (verwandt?) schlaeferte mich in einer Weise ein, bei der ich fast seitlich vom Sitz kippte. Hatte immer nicht verstanden, warum sich Koenig Friedrich vom Grossmeister Bach ausgerechnet die Goldbergvariationen wuenschte, als Musik um besser einschlafen zu koennen. Jetzt wurde mir alles klar: Dieses leise, moderate, gleichfoermig .und sanfte Gesauesel wuerde auch den hyperaktivsten Zappelphillip-ADHS-ler zur Ruhe bringen, musikalischer Baldrian, toenernes Schlafmittel, klingendes Ritalin. Auch der Auftritt der komplett weiblichen Mitmusikerschaft aenderte daran nur wenig. Kniegeige, Barockbratsche und eine Langhalslaute, die Ausmasse hatte wie ein buddhistischer Flitzebogen. Aber alles so furchtbar statisch und undynamisch. Es wurde nur noch getoppt von den halbnackten Gipsfiguren und Blumenornamenten, die von den Waenden und Decken des Saales bleich und leblos auf das Publikum hinunterblickten. Etwas besser wurde es, als in der zweiten Haelfte zur Apotheose de Corelli die Taenzerin Madli Teller in historischem Gewandt dazu kam, sich dann aber gluecklicherweise nicht historisch korrekt, sondern frei und modern zur Musik bewegte und diese in Bewegung interpetierte, endlich mal was lebendiges, danke dafuer. Ich merke immer mehr, dass Lebendigkeit in Musik und Kunst ein immer wichtigeres Element fuer mich darstellt. Das hier war ein Beispiel fuer mausetote, lang vergangene Musikkultur, ich komme da immer weniger mit klar. Frueher durfte man zu dieser Musik erwiesenermassen essen, trinken, leben und lieben und sogar auch: einschlafen. Klingt nach gutem Amusement mit netter Begleitmusik, da passt’s dann wieder.

Bin dann wieder zurueck in die Altstadt, wollte eigentlich noch ins Kino (“The Circle” laueft hier schon), war ja erst 21.00 und draussen sowieso noch hell, aber ich war einfach zu muede. Also zurueck zum Hostel, da verwickelte mich der junge, japanische Herbergsvater Tao in ein interessantes Gespraech, das liess ich mir gerne gefallen. Das Fussballspiel Estland – Belgien ist derweil total an mir vorbei gegangen, obwohl den ganzen Tag sehr viele belgische Fans die Innenstadt belagert haben. 23.00 ins Bett, over and out. Morgen bin ich perdu, Abfahrt im Laufe des Tages nach Paernu an der Ostsee.

3 Gedanken zu „Reise: Tales of Tallinn

  1. Hi Dennis, verfolge deine Reiseberichte täglich. Das Wetter scheint sich ja auch gebessert zu haben. Mich würde dein Kontakt mit den Einheimschen auch schon mal interessieren. Was macht eigentlich die Elektromobilität in Estland. Sie wurden mal als Vorzeigeland angepriesen.
    Übrigens Belgien hat 2:0 gewonnen. Mach mal auch ein Foto vom Croce-Double.

    • @Artur: Freut mich, dass du Wetter war nur am Tag der Überfahrt regnerisch, vorher und nachher alles gut. Sitze gerade bei sinkender Sonne in Pärnu am Ostseestrand in der Surferkneipe Aloha und höre Electronic Dance Music mit fetten Sunbbässen.

      Zu deinen Fragen: Die Finnen können alle gut englisch, waren zurückhaltend, aber durchwegs sehr freundlich. So viel direkten Kontakt hat es da aber gar nicht gegeben, eher mal so zwischendurch.

      Estnisch soll sprachlich nah dran sein am finnischen, sieht hier auch ähnlich aus. Allerdings ist Tallinn in der Altstadt deutlich älter, Aussenumgebungen, viel neue Gebäude, fast überall freies WLAN. Auf der Busfahrt nach Pärdu könnte man aber auch noch das architektonische Erbe der Sowjetzeit erkennen.

      Ist schön hier, ich fühle mich wohl, nur Tallinn war in der Altstadt sehr touristisch, lag aber vielleicht auch an den vielen Belgiern wegen dem Länderspiel.

      Letztes Mal hat Estland angeblich 8:1 verloren, haben sich also gut verkauft.

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