Reise: Pärnu – Riga

Früh als erster aufgewacht, es ist Sonntag. Obwohl ich erst weit nach Mitternacht zurück ins Hostel gekommen bin, waren alle anderen noch unterwegs, im Hinterhof des Hostels wurde erst noch gesungen, danach Musik aufgelegt, aber es war nicht agressiv laut, konnte dabei trotzdem irgendwann einschlafen.

Durch die einsamen, frühmorgendlichen Strassen laufe ich zu einer nahgelegenen Markthalle, erst als ich näherekomme, begegnen mir immer mehr Menschen. Es werden Obst, Gemüse und Blumen verkauft, es gibt aber auch eine Fleischhalle und eine kleine Bäckerei mit Cafe. Lokale Frühstücksleckerei sind anscheinend fritierte Teigringe mit Puderzucker. Die werden massenweise zubereitet, in einem Edelstahltopf warm gehalten und per Kg verkauft. Ich nehme drei Stück davon und einen Kaffee, ah.

Dann durch die immer noch einsamen Straßen zurück zum Hostel. Ich setze mich an den öffentlichen PC und schreibe, wie jeden Tag, den Blogartikel, der diesmal etwas länger ausfällt. Als ich fertig bin, ist schon fast Mittag, mit dem Strand wird das nichts mehr, ich mache noch einen kleinen Spaziergang, dann hole ich meine Sachen im Hostel ab und mache mich auf zum Busbahnhof. Noch im Hostel treffe ich den Argentinier Maxim, der mit mir in einem Zimmer übernachtet hatte. Es stellt sich heraus, dass wir beide mit demselben Bus weiter nach Riga fahren, endlich hat er mal kein Stöppsel im Ohr und wir kommen ins Gespräch. Ich kaufe ein Ticket und wir setzen uns im Bus nebeneinander. Es erzählt mir, dass er ein großer Musikliebhaber ist. Als Jugendlicher spielte er Bandoneon, hörte dann irgendwann damit auf, aber hörte weiterhin erst klassischen Tango, dann nuevo, schliesslich modern. Er unterscheidet streng zwischen Electro Tango und Tango Electro, erklärt mir die Feinheiten und schreibt mir die Namen seiner Lieblingsalben auf. Danach erzählt er freimündig von seinen Erfahrungen mit der bewusstseinserweiterden Droge LSD und empfiehlt mir als idealen Einstieg zum Thema Mushrooms einen Besuch in Amsterdam, da würden sie einen zu diesem Thema gut beraten. Ja gut, ähm, ich bin ja eher so der cleane Typ, werde schon von einem Glas Rotwein total müde und kann nach einem Radler nicht mehr klar denken, deswegen erstmal danke für die interessanten Tipps, war sicher gut gemeint. Er hat keine Frau und keine Kinder und ich bin mir sicher: Die aussergewöhnlichen Erlebnisse meiner Realität können mit den Erfahrungen seiner Scheinwelt locker mithalten.

Die Fahrt nach Riga vergeht wie im Fluge, toll ist, dass man bei der Linie Lux auch wieder freies Wlan hat, aber noch besser, man darf während der Fahrt so viel Kaffee aus dem Automaten ziehen, wie man will, kostet nix und schmeckt echt sehr ordentlich. Als wir da sind, gehen Maxim und ich noch eine Weile zusammen in die Stadt, tauschen Kontakte aus und trennen uns dann. Das nächste Hostel ist schnell gefunden, check-in, umziehen, dann geht es in die Altstadt, muss dringend was essen, schon wieder 16.30 und noch kein Mittagessen. Gehe auch mal kurz zur Tourist Info, aber sie sagen heute gäbe es kein Konzert in Riga, nirgends, ich kann es kaum glauben und tue gut daran.

Wenn es Leitmotive in meinem Leben gibt, dann unter anderem, dass mir seit meiner frühesten Jugend irgendwelche Leute sagen, dass es irgendwas nicht gibt oder nicht geht oder ich das sowieso nicht schaffe. Ich könnte hunderte Beispiele aufzählen. Mich hat das aber noch nie von irgendetwas abgehalten, ganz im Gegenteil, es fordert mich heraus einen Weg zu finden und das ist oft viel einfacher als gedacht. Ich könnte jetzt genau so wieder hunderte von Beispielen aufzählen, wo ziemlich genau das eingetreten ist, von dem vorher gesagt würde, das sei unmöglich. So auch jetzt wieder. Kein Konzert angeblich an diesem Abend in Riga. Ich mache noch eine Runde, gehe zufällig runter zum Stadtkanal und da steht ein riesiger, klassizistischer Prachtbau, weisse Säulen und darüber steht sowas wie Nationales Opernhaus, ich also hin, rein in die seitlich gelegene Ticketbude, ich frage die Dame am Schalter was heute und morgen so geht. Sie meint, Opernfest, heute Carmen von Bizet, in einer Stunde Anpfiff, sie hätte genau noch ein einziges Ticket. Da greift man zu für 20 Euro. Also schnell zum Hostel, lange Hose und Hemd anziehen, 45 Min. später bin ich wieder da, um 19.00 geht es los. Die Oper ist mit mir erst wirklich ausverkauft, moderne und sehr beeindruckende Inszenierung, so ein bisschen klassische Hochkultur zwischendurch kann schon auch Spass machen. Das Publikum international, vor mir drei Briten, neben mir eine freundliche, ältere Dame aus Salzburg, sie gibt mir Tipps für die Festspiele im Sommer, während meines nächsten Familienurlaubs in Fuschl. Europäer unter sich, weit und breit keine Amerikaner, die hätten eh kein Wort verstanden, franco-iberische Oper in Lettland, da findet vorab eine knallharte Eigenselektion statt. Die Inszenierung hatte flotte Tempi, herausragend aber die vielen, sehr modernen Tanzeinlagen mit Elementen aus Breakdance, Hip Hop, Street, aber auch Contact, ganz wunderbar anzusehen und auch sehr sensibel choreographiert, effektvoller stilistischer Bruch zur wohlbekannten Musik.

Die Oper hat zwei Pausen und dauert mehr als 3h, danach ohne Umwege zurück zum Hostel. Im Viererzimmer, sind wir zu zweit, ein Taiwaner und ich. Er antortet auf meine gutgemeinten Fragen nur mit ja und nein und glotzt ansonsten in sein Smartphone, auch gut, ich habe meine Ruhe. Draussen im Hof spielt einer zum Abschluss des Tages noch Blackbird von den Beatles auf der Gitarre und singt etwas krumm dazu, immer wieder dieselbe Strophe, aber mit Herz. Irgendwann schlafe ich ein.

Keine Fotos diesmal, weil der PC des Hostel nicht lief. Dies ist der erste Artikel, den ich komplett auf meinem iPad getippt habe. Ging besser als ich dachte.

5 Gedanken zu „Reise: Pärnu – Riga

    • @Bernhard: Sorry, das ich deine puritanischen Erwartungen nicht erfülle und nicht mehr nur mit Papier, Bleistift und Radiergummi herumreise. Aber im Ernst: Es gibt leider immer weniger zugängliche Rechner am Wegesrand, Internetcafes sowieso nicht mehr, also musste ich etwas umsatteln und eine Alternative bereithalten.

      Ist aber auch ein kleiner Fluch, weil man fast schon reflexhaft mehrmals täglich checkt. Nicht so oft wie daheim vielleicht, aber dfitiv zu oft. Das optimiert zwar einige Abläufe und verkürzt Wartezeiten, aber minimiert auch den Einfluss des Zufalls und macht hin und wieder etwas ungeduldig, wo man früher etwas Warterei gleichmütig hingenommen und sich derweil umgesehen hätte.

      Vielleicht ganz gut, dass es beim nächsten Projekt immer wieder Abdeckungslöcher geben soll.

      PS: Hatte eigentlich erwartet, dass du wegen der vielen “hochkulturelllen” Aktivitäten über mich herfällst.

  1. wieso sollte ich über dich herfallen? das machst du doch in der regel selbst (subventioniertes kulturevent!) aber passt schon; hätte etwas mehr folk in seiner ursprungsform erhofft, aber das kann man ja nicht erzwingen auf nem roadtrip. Komme selbst gerade erst von ner kleinen 10tägigen entwöhnungskur auf dem campingplatz zurück und da sassen dann nicht nur die jugendlichen am freien wlan, sondern auch die rentner, da kann man gut sehen wie allumfassend diese sucht um sich greift – nehme mich da auch nicht aus – und dein Beispiel mit dem mädel, die blind ihrem navi folggt sagt ja einigees dazu aus….

  2. @Dennis: Und der kostenlose Automatenkaffee hat wirklich einigermaßen geschmeckt? Naja, naja, naja. Erbitte dringend eine Geschmacksprobe! Grüße von der Kaffeetante!

    • @Kaffeetante: Nach einer Woche Straße und Hostels ist man froh um jede koffeinhaltige Zuwendung. War aus meiner bescheidenen Sicht ganz wunderbar, habe so oft zugelangt, dass ich fast schon einen kleinen hyperaktiven Flash hatte, als ich aus dem Bus gestiegen bin.

      Der Argentinier neben mir hat solange fast die ganze Zeit Mate getrunken, selbst zubereitet mit Thermoskanne. Das sah viellleicht aus. Er schüttete die ganze Zeit heißes Wasser in eine Tasse mit grüner Kräutermatsche und hatte den Sud mit einem silbernen Röhrchen vom Boden gesaugt. Lustiger Typ.

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