Buch: „Das zweite Ich“ von Gunter Reus (Hg.)

UnknownDas Buch erschien im März 2014 im wissenschaftlichen Verlag Springer VS (bis 2012 VS Verlag) in der Reihe „Musik und Medien“ und trägt den Untertitel „Gespräche mit Musikern über Image und Karriere in der Mediengesellschaft“ (ISBN 978-3-658-04482-4, 34,99 €). Der Herausgeber Gunter Reus ist Professor für Journalistik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover.

Das Buch umfasst Interviews mit 18 deutschen Musikern verschiedenster musikstilistischer Sparten. Die Interviews wurden vorbereitet und durchgeführt von Teilnehmern eines Projektseminars der Hochschule Hannover, das der Herausgeber dort leitet. Der Ablauf folgt einem „halbstandardisierten Verfahren“, d.h. ein Teil der Fragen war vorformuliert und wurde an alle Interviewpartner gerichtet, ein weiterer Teil der Fragen wurde individuell an den einzelnen Interviewpartner gerichtet.

Im Vorwort führt Gunter Reus an das Themen “Image und Karriere” heran und eröffnet mit einem antiquierten Zitat aus Lessings Schauspiel „Emila Galotti“ (1772). Von da arbeitet er sich ins 19. Jahrhundert voran, beschreibt knapp die Entwicklung von Bürgerkultur, Zeitungen und Feuilletons und zeigt sich auch weiterhin einer stark historisch geprägten Sichtweise verhaftet. Irgendwann kommt er dann doch wenigstens im 20. Jahrhundert an, schwärmt von den Möglichkeiten von Grammophon, Kassettenrekordern und „mobilen Endgeräten“. Bis zur Gegenwart im 21. Jahrhundert reicht es dann leider doch nicht. Er faselt zwischendurch allen Ernstes vom „Siegeszug der angelsächsisch geprägten Popmusik nach 1900“ (meint wohl anglo-amerikanisch) und erkennt „Gegebenheiten der Rezeption, die einen Konzertrahmen nicht mehr unbedingt voraussetzen“. Die Musikwelt wird klassisch unterteilt in E und U, das Musikgeschäft in Kunst und Kommerz und das Internet ist im weiteren Verlauf nahezu gleichgesetzt mit Facebook (finden alle doof, aber man muss halt), ganz vielleicht wird noch kurz eine Homepage erwähnt, aber nie benannt (wird meist von Zuarbeitern gepflegt, man ist ja Künstler), keine Rede von Videos, Downloads, Blogs, Crowdfunding, digitaler Vernetzung, Subventionsproblematik, Umsonstkultur, Selbstausbeutung, Selbstmanagement oder gar möglicher Perspektiven etc. Lobenswert immerhin der Ansatz der Publikation mal die agierenden Musiker in das Zentrum einer Betrachtung zu setzen und ihnen konkrete Fragen zu stellen. Dazu wäre anzumerken, dass so was von ernstzunehmenden Musikmagazinen (Rolling Stone, Spex, Visions) natürlich schon seit Jahrzehnten gemacht wird. Im wissenschaftlichen Kontext scheint es, wenn man der Argumentation von Reus folgt, anscheinend eine neue Herangehensweise zu sein.

Die befragten Musiker sind musikstil- und generationenübergreifend ausgewählt, leider sind nur zwei Frauen dabei (beide aus dem klassischen Bereich). Alle zusammen sind oder waren in ihrem jeweiligen Bereich national, zum Teil auch international, erfolgreich und etabliert.
Der Fragenkatalog startet fast ausnahmslos mit der idiotischen Frage „Was ist für Sie das perfekte Publikum?“. Erstaunlicherweise finden die Befragten dazu meist eine halbwegs freundliche Antwort. Wie auch insgesamt festzustellen ist, dass die Interviewpartner dem Projekt und den fragenden Studenten gegenüber sehr offen eingestellt sind. Tatsächlich ist aber bereits das Interview (bzw. sogar die erfolgte Absage eines solchen) eine Form der Imagepflege eines jeden Künstlers und so wäre es insbesondere aus wissenschaftliche Sicht natürlich interessant gewesen wer im Vorfeld alles angefragt wurde, auf welchem Wege und in welcher Form kommuniziert wurde bevor es überhaupt zu dem Interview kam, wo es stattfand, aus welchem Grund Absagen erfolgten etc. Es ist auch nicht ganz unwesentlich, dass anscheinend keine Interviews mit Vertretern der allerersten Liga deutscher Musiker stattfanden und insbesondere nicht mit Musikern, die in einem besonderen Masse von einem stark konstruierten Image leben wie z.B. Rammstein, Bushido, Helene Fischer oder David Garrett um Mal ein paar sehr prominente Vertreter zu nennen. Es handelt sich bei der in den Interviews präsentierten Gruppe also bereits um eine deutliche (Vor-)Auswahl von Musikern, die – jede/r auf seine Weise – um Formen der öffentlichen Wahrnehmen kämpfen müssen. So behauptet natürlich folgerichtig auch fast jeder der Interviewten „authentisch“ zu sein, „für seine Fans da“ zu sein. Es wird mehrfach behauptet man sei „am Boden geblieben“, „ganz normal“, hätte sich durch die vermeintliche Prominenz „nicht verändert“ und sei privat „genau so wie auf der Bühne“.
Das sind dann natürlich wieder für sich gesehen interessante und verwertbare Erkenntnisse. Sie werden aber nicht kommentiert, gefiltert, relativiert oder aufgearbeitet. Der Leser wird am Ende jedes Interviews und schließlich auch am Ende des Buches komplett allein gelassen. Es gibt keinerlei Zusammenfassung, kein Ergebnis, kein Fazit, nichts. Man findet nicht mal eine Einschätzung darüber, ob man die einigermaßen aufwändige Unternehmung (Anfragen, Anreisen, Interviews, Verschriftlichung, Buchform) selbst für wertvoll und gelungen oder für eigentlich irrelevant und überflüssig hält (was im Rahmen eines Seminars keine Schande gewesen wäre). Der Herausgeber zieht sich hier am Ende einfach sang- und klanglos aus der Affäre. Das überakademische Vorwort wirkt dadurch im Rückblick noch weltfremder und abgehobener.

Die Interviewsammlung bekommt dadurch den Charakter einer zwar sachlichen, aber auch seltsam passiven und farblosen Texttranskriptionen ohne Motiv, Wertung, Aussage oder Intention. Man fragt sich als Leser: Was wollte der Herausgeber mir mitteilen? Dass er die Fähigkeit hat seine Studenten anzuleiten wie man Interviews konzipiert? Am Schluss hat man 18 Interviews gelesen mit Musikern, die man kennt oder auch nicht, die man sympathisch findet oder auch nicht, aber es hat alles in allem leider keine nennenswerte Relevanz. Vielleicht kann die Interviewsammlung in anderen Uni- oder Hochschulseminaren als Stoffsammlung dienen, vielleicht folgt irgendwann die Auswertung der erhobenen Aussagen durch Herrn Reus oder weitere seiner Seminarteilnehmer. Vielleicht kann man es aber auch bleiben lassen.

Fazit: Das mit 200 Seiten recht dünn angelegte Büchlein ist nicht sehr aussagekräftig und mit einem Preis von 34.99 Euro deutlich überteuert. Es hätte aus wissenschaftlicher Sicht vollkommen ausgereicht die Transkriptionen der Interviews in digitaler Form und für jedermann zugänglich ins Netz zu stellen. Alternativ empfehle ich zum Thema das erst kürzlich bei transcript erschienene und hervorragende Buch „Künstler. Ein Report“ von Wolfgang Schneider (Hg.). Darin geht es zwar nicht in erster Linie um Image, die Karrieren und Lebensumstände von Künstlern verschiedenster Sparten werden aber hoch interessant und aussagekräftig beschrieben, in einen gesellschaftlichen Kontext gesetzt und gewinnbringend und erkenntnisreich kommentiert.

Ein Gedanke zu „Buch: „Das zweite Ich“ von Gunter Reus (Hg.)

  1. @Dennis: Danke für die ausführliche und meinungsstarke Kritik 🙂 Reus’ Formulierung, die Popmusik des 20. Jahrhunderts sei von “Angelsachsen” geprägt gewesen, erinnert mich an die Sprache der völkischen Musikwissenschaft im Dritten Reich. Es wird damit ein (Pseudo-)Bezug hergestellt zwischen einem “germanischen Sammelvolk” (Wikipedia) des 5. Jahrhunderts nach Christus und – sagen wir mal – den Beatles. Hm. Schließt sich die Frage an: Waren die Beatles eher *anglisch* oder eher *sächsisch*? Sind gar friesische, niederfränkische oder keltisch-romanische Einflüsse (Wikipedia) wahrzunehmen? Oder so. Würde ich wirklich gern wissen.

    Eben sehe ich, dass du “Künstler. Ein Report” ja selber rezensiert hast, und zwar hier http://www.dennisschuetze.de/blog/2014/01/20/buchtipp-kunstler-ein-report-von-wolfgang-schneider-hg/
    Da hättest du ruhig einen Link drauf setzen können, halte ich nicht für ehrenrührig.

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