„Asta und Ivo“ von Ludwig Hermann Schütze

Es ist die Geschichte einer kurzen Lebensgemeinschaft, die ich erzählen will. Seit längerem hatten wir ein verwitwetes Kanarienweibchen, Asta genannt, das sich durch sein stilles, freundliches Wesen unsere Zuneigung erwarb. Vor Kurzem gesellten wir ihm einen Zeisig-Jüngling bei, dem ich, in Erinnerung an einen Schulkameraden, den Namen Ivo gab. Die ersten Tage ihres Zusammenseins waren nicht vielversprechend. Asta zeigte eisige Zurückhaltung und wies dem wilden Eindringling ostentativ den Rücken zu, abweisend mit einer Würde, die an Adele Sandrock erinnerte. Danach wurde das Verhältnis besser. Der wilde Ivo, der sich im Käfig wie toll gebärdete, offenbar um Eindruck zu machen, stimmte die würdevolle Asta allmählich um. Nicht nur das, er verdarb sogar bald ihre guten Sitten. Wir ließen häufiger beide frei im Zimmer umherfliegen, wie wir das früher schon mit Asta gemacht hatten. War diese aber sonst nach kurzem Rundflügen stets bald wieder in den Käfig zurückgekehrt, so machte sie es neuerdings wie Ivo, setzte sich lange auf die Gardinenstange und vergaß sich eines Tages soweit, dass sie in der Küche in einem Topf in dem Erbsen für die Suppe aufquellen sollten, ein Vollbad nahm, ein andermal sich sogar auf den Frühstückstisch in der Butter niederließ. Auch waren beide abends oft nicht zu bewegen, in ihren Bauer zurückzukehren. Bisweilen geschah es allerdings, dass Asta dasselbe freiwillig wieder aufsuchte, während Ivo oben auf der Gardinenstange kampierte. Sie ließ es augenscheinlich mit mütterlichem Wohlwollen geschehen, wohl darum, weil sie wusste, dass bei diesen Eskapaden nichts passieren konnte, was ihre Eifersucht geweckt hätte. Vor einigen Tagen aber geschah es, dass Ivo sich in ein Zimmer stahl, in dem das Fenster offen stand und, verlockt durch einen fremden Vogel auf der Fensterbank – oder war es eine alte Bekanntschaft? – und das schöne Frühlingswetter, auf und davonflog. Alle Versuche ihn durch Aufstellen des Bauers auf dem Balkon zur Heimkehr zu bewegen, blieben erfolglos. Und Asta? Zunächst schien sie zu trauern, wurde einsilbig und in sich gekehrt und schien bisweilen wehmütig durchs Fenster nach dem fröhlichen Burschen Aussicht zu halten. Aber das gab sich bald, nach zwei Tagen hatte sie das Gleichgewicht der Seele wiedergewonnen, und ich argwöhne, dass sie so empfindet, wie jene Verlassene in einem Vers, den ich einmal in der Schweiz fand:

„Mein Schatz ist fortgeloffen, ich weiß nicht wohin,
Kein Mensch kann mir glauben, wie froh, dass ich bin!“

Die Gerechtigkeit verlangt indessen, dass wir uns auch in Ivos Gemüt zu versetzen suchen. War es der unwiderstehliche Freiheitsdrang, der ihn zur Flucht trieb, oder war es gar, dass ihm die alternde Witwe mit ihren Avancen auf die Nerven ging? Wir werden es nie erfahren, denn, um ein Wort des Vikars in Halbes Jugend zu variieren: „Wer kann die Geheimnisse einer so armen Vogelseele ergründen?“

Nachschrift: Nun ist auch Asta ausgerückt und hat meine „tiefschürfende“ Psychologie über den Haufen geworfen – „Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme.“


Ludwig Hermann Schütze (1869-1943) ist mein Urgroßvater väterlicherseits. Er war Kunsthändler und Kunstkritiker, arbeitete viele Jahre für die Photographische Gesellschaft Berlin (davon elf Jahre in New York) und verfasste im Laufe seines Lebens journalistische, literarische und autobiographische Texte.

9 Gedanken zu „„Asta und Ivo“ von Ludwig Hermann Schütze

  1. Eine unterhaltsame, feinsinnig geschriebene Geschichte. Ich bin so froh, dass beide die Freiheit gesucht und gefunden haben. Gefangene Vögel wollen doch letztendlich immer nur das Eine und das zurecht, wie ich finde. Dass Haustiere zu so schönen Geschichten inspirieren, hätte ich nicht gedacht.

  2. Da läuft mir richtig die Gänsehaut auf, schon alleine, wenn ich die Lebensdaten Deines Urgroßvaters lese: 1869 bis 1943.
    Ganz herrliche Geschichte, mit schöner, leiser Melancholie zu den großen Themen des Lebens: Liebe und Freiheit.
    Ich freue mich schon auf mehr.

  3. Ja, lieber Dennis,
    die Beobachtung ist federleicht geschrieben….
    Hoffe es kommt noch mehr über die “Exotik des Alltags”…von unserem Urgroßvater
    Danke
    Nannette
    (Urenkelin von Ludwig Hermann Schütze/ mütterlicherseits)

  4. @Alle: Vielen Dank für die vielen positiven Kommentare. Diese Kurzgeschichte meines Urgroßvater zu posten war auch ein kleiner Versuch. Eure Reaktionen machen mir Mut einmal wieder was von ihm zu bringen und evtl. auch etwas über seine Person und seinen ungewöhnlichen Lebensweg zu erzählen. Mittlerweile habe ich neben weiterer eigener Texte von ihm auch sehr viele biographische Informationen erhalten und so puzzle ich gerade eine hochinteressante Familiengeschichte zusammen von der ich bis vor Kurzem noch keine Ahnung hatte. Sie reicht noch weiter zurück bis zu seinem Vater und dessen Vater, also meinem Urururgroßvater. Besteht Interesse?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert