Buch: „Cowboys & Indies“ von Gareth Murphy

CowboysIndiesGareth Murphy wuchs in einer Musikerfamilie in Dublin auf und lebt als freier Autor in Paris. Er arbeitete für verschiedene Musikfirmen und produzierte elektronische Kompilationsalben. „Cowboys & Indies“ ist sein erstes Buch. Mit dem Untertitel „The Epic History of the Record Industry“ erschien es 2014 im englischen Original. Im Herbst 2015 veröffentlichte Tiamat die deutsche Übersetzung mit unübersetztem Titel und dem Zusatz „Eine abenteuerliche Reise in Herz der Musikindustrie“.

Murphy hat sich viel vorgenommen für sein Debut, er will die mehr als hundertjährige Geschichte der westlichen Musikindustrie nachzeichnen. Er beschränkt sich dabei, ohne das irgendwo näher zu benennen oder zu erklären, ganz und gar auf die anglo-amerikanischen Anteile. Erzählt wird die Geschichte anhand einflussreicher Figuren, die er im Vorwort als ‚Record Men’ bezeichnet. Unter diesem schwer ins Deutsche zu übersetzenden Begriff fasst er so diverse Berufsstände wie Erfinder, Labelbosse, Tontechniker, Impressarios, Produzenten, Manager, Vermarkter, Vorstandsvorsitzende und Aufsichtsräte zusammen. Ihre Gemeinsamkeit ist, dass sie – zumindest aus Sicht des Autors – wesentliche Akzente im Verlauf der Geschichte von Musikeinspielungen und deren Vermarktung gesetzt haben.

Murphy epische Version der Geschichte beginnt historisch gesehen vollkommen zu Recht Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erfindung der ersten mechanischen Aufnahme- und Abspielgeräten auf Walzen, später Platten. Detailgenau beschreibt er den zeitlichen Ablauf, die Motivation der Erfinder, Patentrechtsstreitigkeiten, Erfolge, Flops, Firmenbankrotte, Patentaufkäufe und irgendwo ganz am Rande geht es auch um Musik, die aber von den Hauptfiguren in erster Linie aufgenommen wird um den Kunden möglichst viele Abspielgeräte andrehen zu können. Von da aus geht es über die Vermarktungszahlen während des Ersten Weltkriegs zur Erfindung des Radio, der großen Depression, über die Swingära und den Zweiten Weltkrieg zum Streik der Musikergewerkschaften Anfang der 1940er Jahre. Murphy erzählt sehr ausführlich von John Hammond, danach auch von Sam Philipps, George Martin, Phil Spector und einigen anderen Musikproduzenten der 1950er und 1960er Jahre. In den 1970 Jahren geht es ausführlich um Management und Vermarktung der britischen Band The Sex Pistols. Ab da schwenkt Murphy um, wechselt seinen Erzählschwerpunkt und schreibt nur noch von den Geschäftsmännern (keine Frauen!) in den oberen Managementetagen. Es geht nicht mehr um Musik, Aufnahmetechnik, Produktion, Konzerte etc., sondern einzig und allein um Strategien der Vermarktung, ja, genaugenommen um Vorgehensweisen möglichst viel Geld zu erwirtschaften.

Mit Etablierung der CD verdienten sich die Firmen dumm und dämlich, die Herstellung war billiger als bei einer Vinylschallplatte, aber man konnte sie als technische Innovation wesentlich teurer verkaufen und aufgrund vertragsrechtlicher Fußnoten sogar noch weniger vom Gewinn an die Musiker und Bands abgeben. Der Autor benennt diese Umstände zwar am Rande, überschattet wird diese Feststellung aber von seiner unverhohlenen Bewunderung für diese durchtriebenen Raffhälse, die besonders im zweiten Teil dieses Buches etwas unangenehme Züge annimmt. Wie durch ein Vergrößerungsglas wird der verschwenderische Lebenswandel und fragwürdige, geschäftliche Entscheidungen betrachtet. Dazu erzählt Murphy von Begebenheiten und Entwicklungen als ob er selbst danebengestanden hätte, er zitiert die Aussagen Beteiligter, wechselt immer wieder auch in die direkte Rede und lässt sie fiktiv selbst sprechen, als wäre damals ein Aufnahmegerät mitgelaufen. Solche Passagen nehmen zum Ende hin zu, sie wirken langatmig, unglaubwürdig, frei erfunden. Hinzu kommt, dass Murphy es einfach nicht schafft sich mal kurz zu fassen, sich auf’s Wesentliche zu reduzieren, Nebensächlichkeiten vielleicht nur anzudeuten oder auch einfach komplett wegzulassen. Weil ihm das nicht gelingt, wird der Text länger und länger, zieht sich und trotz dieser Ausdehnung gelingt es ihm nicht die Themen Digitalisierung, Downloads, Streaming sachlich und umfassend abzuhandeln. Es bleibt bei diffusen Stichworten und Allgemeinplätzen. Shawn Fanning, der Gründer von Napster wird nicht mal erwähnt, die musikmarktwirtschaftlichen Veränderungen, die Plattformen wie iTunes, YouTube, Soundcloud, Spotify, im Musikgeschäft provoziert haben, werden nicht weiter thematisiert. Auch spielen Entwicklungen und Tendenzen außerhalb der anglo-amerikanischen Homezone des Autors überhaupt gar keine Rolle (nicht einmal Frankreich, sein – laut Klappentext – aktueller Wohnort). Als deutscher Leser steht man deshalb etwas außen vor und Murphy wirkt wie ein überkommener Vertreter der niedergegangenen Musikindustrie, wie einer von denen, die heute noch nicht fassen können, dass sich die Zeiten (und das Geschäft) für immer geändert haben.

Trotzdem allem schafft es der Autor 480 Seiten kleinkarierten und anekdotisch geprägten Text ohne jegliche Fotos, Bilder, Diagramme oder belastbare, quantitative Daten zusammenzuschreiben. Herauskommt ein Ziegelstein von einem Buch, schwer, aber leider nicht gewichtig, man muss aufpassen, dass es einem beim Lesen im Liegen nicht die Atmung abschnürrt, wenn man es auf dem Brustkorb abstellt. Immerhin kann man ziemlich sicher sein, dass kein zweiter Teil folgen wird, denn Murphy hat ganz offensichtlich alles niedergeschrieben was er jemals aufgeschnappt hat, viel mehr kann da beim besten Willen nicht mehr folgen.

Fazit: Langatmige Geschichte der anglo-amerikanischen Musikindustrie und einiger exemplarischer Record Men.

Das Taschenbuch erscheint bei Tiamat, hat 480 Seiten und kostet 24 Euro.

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