Buch: „Marmor, Stein und Liebeskummer“ von Christian Bruhn

MarmorChristian Bruhn ist Komponist und Musikproduzent. In der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit verfasste er unzählige, zum Teil sehr erfolgreiche Schlager. Später komponierte er Film-, Fernsehmusik und Werbemelodien. Von 1991 bis 2009 war er Aufsichtsratsvorsitzender der GEMA und bis 2007 Präsident der CISAC (Dachorganisation der Urheberrechtsgesellschaften). Mit „Marmor, Stein und Liebeskummer“ legte der Bruhn im Jahr 2005 in Anspielung an einen seiner größten Hits seine Autobiographie vor. Sie trägt den Untertitel „Erinnerungen , Gedanken und Gefühle von ihm selbst aufgeschrieben“.

Bruhn gilt als einer der kommerziell erfolgreichsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts, trotzdem ist der Name den allermeisten Deutschen nicht geläufig, weil er in erster Linie im Hintergrund arbeitete. Über Jahrzehnte hinweg komponierte, arrangierte und produzierte er für alle Schlagerstars von Rang und Namen: Siw Malmkvist, Katja Ebstein, Mireille Mathieu, Drafi Deutscher, Catarina Valente, Peter Maffay, Wencke Myhre, Vico Torriani, Freddy Quinn u.v.m. Bereits ein nur flüchtiger Blick auf herausragende Werke aus seiner Feder lässt den Freund deutscher Populärmusik mit der Zunge schnalzen: „Zwei kleine Italiener“, „Liebeskummer lohnt sich nicht“, „Wunder gibt es immer wieder“, „Marmor, Stein und Eisen bricht“, „Aus Böhmen kommt die Musik“, „Ein bisschen Spaß muss sein“, dazu Filmmusiken wie „Heidi“, „Wickie“, „Sindbad“, „Captain Future“, „Timm Thaler“, „Silas“, um nur einige wenige zu nennen.

Das Buch setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Der erste, eigentlich autobiographische Teil hat 23 Kapitel und beschreibt Privatleben und beruflichen Werdegang, der anschließende zweite Teil besteht aus einer ergänzenden Sammlung zusammenhangsloser Essays, Betrachtungen, Streitschriften, Gedichten und fiktiven Interviews.

Jedem der autobiographischen Kapitel sind ein oder mehrere Zitate vorangestellt, sie stammen von Philosophen, Schriftstellern und Musikern, es sind aber auch etliche Selbstzitate darunter. Bruhn entwickelt seine Lebensgeschichte chronologisch, erlaubt sich aber auch immer wieder anekdotische Exkurse um einzelne Entwicklungen oder Beziehungen zu Ende erzählen zu können. Laut Klappentext will er unterhalten und „mit schonungsloser Offenheit“ von den Höhen und Tiefen seines Lebens berichten. Er erzählt also von Kindheit und Jugend bei Hamburg, Klavierstunden und Ausbildung, der Übersiedlung nach München, ersten beruflichen Erfolgen, man liest über verschiedene Zusammenarbeiten mit Textern, Künstlern, Plattenfirmen, ihm gelingen erste Hits, er schreibt Filmmusiken und Werbejingles („Milka, die zarteste Versuchung…“), er heiratet und lässt sich scheiden (4x) und heiratet dann noch einmal, verdient sehr viel Geld, kauft Immobilien, gewinnt Preise, erhält Ehrungen, wird Funktionär und so weiter.
Schonungslos ist Bruhn aber nicht nur bzgl. seiner Berichterstattung, sondern auch im Umgang mit seinen Lesern. Bruhn ist begabt, fleißig und erfolgsverwöhnt. In den besseren Momenten wirkt das selbstbewusst und meinungsstark. In den nicht so guten Momenten wirkt es unfassbar narzisstisch, egozentrisch, geltungssüchtig, eitel und arrogant und zwar so sehr, dass es beim Lesen manchmal wirklich weh tut. Trotz all seiner unbestrittenen und lang anhaltenden Erfolge ist er anscheinend immer noch verzweifelt auf der Suche nach Anerkennung vom Vater, von der Familie, von Kollegen, den Vertretern der E-Musik, ja, der gesamten deutschen Öffentlichkeit. Gegenüber der vergangenen und zeitgenössischen Kunstmusik und Hochkultur quält ihn geradezu ein pathologischer Minderwertigkeitskomplex. Dabei könnte er sich entspannt zurücklehnen, seine Erfolge und sein Geld zählen, ihm kann doch eigentlich keiner was und angesichts der schieren Quantität seines Outputs kann man auch nur respektvoll den Hut ziehen. Stattdessen reibt er sich auf, arbeitet sich ab, ist unverzeihlich, hat ein Gedächtnis wie ein Elefant, kann sich an jede schlechte Kritik und jeden bösen Kritiker erinnern, ja, sie werden wörtlich zitiert, auch wenn die entsprechenden Texte bereits vor Jahrzehnten erschienen und daher längst vergessen sind. Dann wieder tendenziöse, pseudophilosophische oder gesellschaftspolitische Ausflüge, kalauernde Altherrenwitze, bitterböses Nachtreten, Anekdoten von Besäufnissen und anderen Exzessen. Es werden nebensächlichste Zeugnisse aus Leserbriefen, Artikeln, Reportagen, Fachbüchern, die kein Mensch kennt, zitiert und kommentiert, richtig gestellt, verbessert, ins rechte Licht gerückt und herumgeschlaumeiert. Bruhn weiß immer wie es wirklich war/ist, wer die Fehler macht, wie es besser geht, was schief läuft, andere sollen gefälligst machen, was er sagt, er selbst nimmt sich dagegen sämtliche Freiheiten, die Gefühle oder Beweggründe anderer interessieren ihn nicht, sein Wille zählt, er setzt sich durch, hätte uns das gleich sagen können, liegt richtig, ist stark und setzt sich am Ende durch. Es ist passagenweise irre und schwer erträglich mit welchem Brainfuck Bruhn fast 500 Seiten füllt, zu oft fehlt ihm jede Distanz, Souveränität, Erhabenheit und/oder Gnade.

Wirklich interessant ist es andererseits zu erfahren wie intuitiv, leichtgängig und übersichtlich das Schlagerpopgeschäft nach dem zweiten Weltkrieg und vor der Digitalisierung, also ca. 1950-1980 war. Es gab kaum nationale Konkurrenz, Musik zu produzieren und das Knowhow über die entsprechende analoge Technik waren quasi eine Art Geheimwissenschaft, die kaum ein Außenstehender zu Gesicht bekam, geschweige denn beherrschte. Gearbeitet wurde in Berlin, Hamburg, Köln und zunehmend eben auch in München. Die Protagonisten kennen sich, man trifft sich beim Grand Prix, bei der Übergabe von Goldenen Schallplatten, danach geht man gemeinsam einen heben und/oder gleich in den Puff. Musik läuft im öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen, Schallplatten werden im Laden gekauft, Tantiemen ordentlich abgerechnet, schöne heile Welt, es entstehen die Produktionsimperien von Bruhn, Siegel, Farian, Moroder, später dann auch Bohlen etc. Bruhn bekommt bald mehr Aufträge als er bewältigen kann, verlegt sich zunehmend auf Musik für Fernsehserien und Filme. Leider erfährt man nur wenig über die praktischen Bedingungen der Musikproduktion. Wie sah das Komponieren, Arrangieren, Notieren, Proben, Aufnehmen, Produzieren tatsächlich aus? Wie versorgte man sich mit Informationen über aktuelle Sounds und Effekte? Was bewirkte der digitale Wandel? Es scheint kein Zufall zu sein, dass sich Bruhn gleichzeitig aus dem aktiven Musikgeschäft zurückzog. Auf ein paar Seiten äußert er sich – allerdings aus sehr persönlicher Sicht – über seine Meinung zum aktuellen Musikgeschäft (also bis 2005), da hätte man gerne mehr darüber erfahren, allerdings war Bruhn damals schon Ende 60 und an gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen vielleicht nicht mehr so sehr interessiert. Amazon, iPod, YouTube, Smartphones, Downloads und Streaming steckten da noch in den Kinderschuhen oder waren nicht einmal erfunden.

Fazit: „Marmor, Stein und Liebeskummer“ ist Autobiographie und Epochenportrait über eine Zeit als das Musikgeschäft und insbesondere der deutsche Schlager noch eine heile Welt darstellten. Inhalt und Stil sind passagenweise extrem selbstbezogen und dadurch anstrengend zu lesen. Immerhin laviert Bruhn nicht, er erzählt so wie es sich aus seiner Sicht zugetragen hat und zwar ohne Rücksicht auf (Gesichts-)Verluste. Fremdschämen ist absolut möglich. Eine Lebensgeschichte wie ein Schlagertext!

Das Buch enthält in der Mitte einige private und viele öffentliche s/w-Fotos, u.a. von Auftritten bei diversen Aufführungen und Ehrungen. Das gebundene Buch erschien im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, hat 432 Seiten und ist mittlerweile nur noch antiquarisch oder beim Autor selbst erhältlich.

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