Buch: „100 Gramm Wodka“ von Fredy Gareis

100GrammWodkaFredy Gareis beschreibt sich als Migrant, Entdecker und Autor. Er wurde 1975, also noch zu Sowjetzeiten, in Almaty (Kasachstan) geboren. Als Nachkomme deutscher Einwanderer, siedelte er kurz nach seiner Geburt mit der Mutter nach Westdeutschland über. Er wuchs bei Rüsselsheim auf, studierte Amerikanistik, machte eine Ausbildung an einer Journalistenschule und arbeitet seit 2007 als freiberuflicher Reporter (Stern, Zeit, Neon, DRadio). Nach seinem Debut „Tel Aviv – Berlin“ (2014) ist „100 Gramm Wodka“ (2015) seine zweite Buchpublikation. In seinem aktuellen Buch berichtet Gareis von einem mehrmonatigen Roadtrip quer durch den russischen Kontinent von West nach Ost. Die Reise beginnt in Sankt Petersburg und führt über Moskau, Jekaterinburg, Omsk, Almaty, Irkutsk, Jakutsk und unzähligen weiteren Zwischenstationen bis zur Pazifikküste. Er lässt sich dabei viel Zeit und bedient sich verschiedenster Fortbewegungsmittel, fährt Zug, kauft sich ein Auto, das er kurz danach wegen einer Panne stehen lassen muss und ihm prompt geklaut wird, fährt Bus, per Anhalter, mit Mietwagen, der Transsib und einem Sammeltaxi.

Gareis beginnt die Reise mit dem Vorsatz das Heimatland seiner Vorfahren zu erkunden, Lebensstationen von Verwandten zu besuchen und somit auch die eigene Herkunft zu erforschen. So ist der vordergründig lockere und manchmal auch vom Zufall bestimmte Roadtrip eine Reise in eine sehr persönliche Familiengeschichte, die in einem außerordentlichen Maße von Migration, Vertreibung, Krieg, Gewalt, Verlust, Armut und staatlicher Willkür geprägt worden ist. Von all dem hat der Autor in seiner Kindheit und Jugend wenig erzählt bekommen, sollte anscheinend von der zurückliegenden Misere verschont bleiben, umso heftiger schmeißt er sich nun allerdings in die Aufarbeitung der familiären Vergangenheit. So ist die Reise immer wieder durchsetzt von Flashbacks und Retrospektiven, geschichtlichen Exkursen und geopolitischen Erklärungen. Gareis erzählt viel von seiner Mutter und Großmutter, den starken Frauen, und auf der anderen Seite auch von den von Krieg, Vertreibung und Alkohol zerstörten Männern. Die titelgebenden „100 Gramm Wodka“ stehen dabei für die handelsübliche Dosis (füllt ein traditionelles Wodkaglas) des teuflischen Nationalgesöffs, das von vielen Russen anscheinend wie Wasser getrunken und daher vorzugsweise in Flaschenform konsumiert wird.

Die Spurensuche ist packend, mitreißend, zuweilen witzig, oft genug aber auch erschütternd und traurig. Welches Schicksal große Teile seiner Verwandtschaft zu erdulden hatten ist tragisch und manchmal schwer auszuhalten. Zu welchen Traumata und verpfuschten Biographien die Migrationsgeschichten auch in nachfolgenden Generationen geführt haben, erscheint über weite Strecken unfassbar gnadenlos und brutal. Beispielhaft steht dafür das Nicht-Verhältnis des Autors zu seinem eigenen Vater, das in einer kurzen Episode beschrieben wird und einen als Leser sprachlos macht.

Kurz vor Ende des Buches scheint dem Autor bei seinem Tripp allerdings die Puste ausgegangen zu sein. Vom sibirischen Herbst, geht es per Zeit- und Ortssprung in einen tiefwinterlichen, dunklen und bitterkalten Februarmonat und einer nicht enden wollenden, fast schon surreal anmutenden Busfahrt, die über mehr als 5000km und bei Temperaturen bis zu 40-50 Grad minus ohne erwähnenswerte Zwischenstopps vom Baikalsee, über Ostsibirien zur Stadt Magadan an der Pazifikküste führt. Es bleibt unklar, warum er den letzten Teil der Reise überhaupt noch auf sich genommen hat. Abschließend besucht er das Grab seiner Großmutter, mit ihrem Tod hatte die Geschichte begonnen. „Es ist ein Abschied, aber es ist kein Ende.“ Dawai!

Das Buch hat in der Mitte viele farbige, zum Teil sehr stimmungsvolle Fotos. Im vorderen Umschlag ist es mit einer kompakten Karte ausgestattet, die einen die Routen auch kartographisch mitverfolgen lassen. Als Special wird ein Link zu einer Spotifyplayliste angegeben, der als Soundtrack zum Buch bezeichnet wird und mit einer persönlichen Auswahl russischer Musik von Shostakovich bis Leningrad Cowboys bestückt ist.
Einen Blog oder weiterführende Informationen im Internet gibt es anscheinend nicht.

Das Buch erscheint bei Malik, hat 252 Seiten und kostet 14,99€.

6 Gedanken zu „Buch: „100 Gramm Wodka“ von Fredy Gareis

  1. …bin grad mittendrin, echt super interressant, wenn auch sehr bedrückend, besonders was die geschichtlichen hintergründe zu den russlanddeutschen betrifft….

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