Buch: „Lexikon Musiklehre“ von Clemens Kühn

lexikonmusiklehreClemens Kühn studierte Musikwissenschaft bei Carl Dahlhaus und war seit 1997 Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik Dresden. Nach mehreren erfolgreichen Fachbuchpublikationen wie z.B. „Gehörbildung im Selbststudium“ (1983), „Analyse lernen“ (1994) wurde 2016 das „Lexikon Musiklehre“ veröffentlicht, ein alphabetisch geordnetes Nachschlagewerk mit eingeschobenen Texten. Was der Begriff Musiklehre aus Sicht des Autors genau umfasst, an wen sich die Schrift richtet und was sie bezwecken soll wird im Vorwort leider nicht näher erläutert. Es findet sich lediglich eine etwas pathetische Widmung an „die junge Generation“. Als begleitende Literatur werden Bachs Inventionen, sein Wohltemperiertes Klavier, die Klaviersonaten Mozarts und Beethovens und Schumanns Kinderszenen empfohlen.

Und diese Empfehlungen sagen bereits viel über den nachfolgenden Inhalt aus. Als Unbedarfter könnte man meinen, dass es sich bei einer „Musiklehre“ um die Lehre von/über Musik handelt, das ist hier jedoch nicht der Fall. Der Begriff wird im Sinne der klassisch-deutschen Musikwissenschaft verstanden und auch so behandelt. Jegliche Bezüge, die über dieses spezielle Verständnis hinausweisen würden, kommen im Buch nicht mal ansatzweise vor. So werden zwar zum x-ten Mal grundlegende Begriffe wie Tonika, Dominante, Dreiklang, Diatonik oder der Quintenzirkel erklärt. Vollkommen unbehandelt bleiben jedoch Begriffe und Zusammenhänge, die über dieses altüberlieferte Schulwissen hinausgehen, obwohl sie in den realen Musikwelten natürlich längst allgegenwärtig sind.

Bezeichnenderweise wird ausgerechnet der Begriff „Musik“ im Lexikon auch nicht gelistet, erklärt oder definiert. Auch weitere grundlegende Begriffe wie Komposition, Improvisation, Interpretation, Aufführung, Einspielung, Wiedergabe werden nicht näher beschrieben, haben in Kühns Lehre von Musik keinen Platz. Behandelt werden stattdessen ausnahmslos Begriffe und Beispielwerke der klassisch-romantischen Musiktradition von ca. 1600-1900. Hin und wieder fällt auch mal ein Begriff der nicht über 120 Jahre alt ist, dann aber oft missverständlich oder unvollständig, z.B. konstruiert er einen irritierenden Zusammenhang zwischen Aleatorik und Improvisation (S. 18). Wissenschaftliche Quellenangaben beziehen sich zum großen Teil auf seinen alten Lehrer Carl Dahlhaus, so als hätte sich nach dessen Tod im Jahre 1989 nicht mehr viel neues getan. Genannte Werke stammen nahezu ausnahmslos von weißen, männlichen, christlichen Mitteleuropäern, ganz so als hätte es in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten oder auch nach 1950 keine erwähnenswerten musikalischen oder musiktheoretischen Entwicklungen mehr gegeben. Gänzlich unberührt bleiben außerdem für die moderne Musikkultur so konstituierende Stile wie Folklore, Blues, Jazz, Pop, Rock, Hip Hop oder elektronische Musik. Kein Wort zu Musik aus Afrika, Asien, Australien, Südamerika, bzgl. Nordamerika fällt immerhin mal der Begriff Minimal Music.

Auch die paradigmatischen Wechsel, die durch analoge Aufnahmetechniken (ab ca. 1900), Elektronik (ab ca. 1950) und Digitalisierung (ab ca. 1980) hervorgerufen wurden sind Kühne keine Silbe wert. Das als Lexikon betitelte Buch wirkt daher auf den zweiten Blick wie die abstrakte Konstruktion einer musiktheoretischen Filter-Bubble. Hier wird kein offener Überblick über Begriffe der Musiktheorie geboten, sondern in allererster Line abgeschottet, ausgeklammert, weggesehen. Bemerkenswert ist nicht der behandelte Inhalt (gibt es zigfach in anderen Büchern oder kostenlos bei Wikipedia), sondern das, was bewusst ausgelassen und ignoriert wurde. Es wird eine besorgniserregend einseitige, statische und monokulturelle Sichtweise auf Musikkultur, -theorie und -geschichte festgeschrieben und als amtliche Lehrmeinung kommuniziert. Es wird eine Geradlinigkeit und Homogenität von musikgeschichtlichen und –theoretischen Entwicklungen, Verhältnissen und Zusammenhängen vorgegaukelt, die es so nie gegeben hat, weder in der Vergangenheit und schon längst nicht in der Gegenwart.

Es ist klar, dass in Lehrbüchern, Lexika und Arbeitsheften zusammengefasst und generalisiert werden muss, Erklärungen sind modellhaft, verallgemeinernd, abstrakt, werden aus Platz- und Zeitgründen reduziert, konzentriert, das ist alles legitim. Es ist aber nicht in Ordnung in einer allgemeinen Musiklehre komplette Kontinente, Zeitalter oder Völker auszulassen ohne dies wenigstens vorauszuschicken und zu begründen. Ohne eine entsprechende Erklärung bzw. Abgrenzung wird ein theoretischer Text zur willkürlichen Fiktion.

Fazit: Gemessen am Lebensalter des Autors und vorangestellter Widmung hat das „Lexikon Musiklehre“ von Clemens Kühn den Charakter eines musiktheoretischen Vermächtnisses. Bedauerlicherweise wird darin aber nicht die Diversität zeitgenössischer, weltumspannender Musikkulturen zelebriert (inklusive aller Unsicherheiten und Unklarheiten). Stattdessen wird ein (ab-)geschlossener und selbstgerechter Blick auf deutsche Musiktheorie des 19. Jahrhunderts präsentiert. Kühne beschreibt die musiktheoretische Welt so einfach und strukturiert wie er sie gerne hätte. Die Publikation ist von der für deutsche Musikwissenschaft leider typischen freiwilligen Selbstbeschränkung durchsetzt und für kritische Leser somit eine etwas ernüchternde Bilanz einer jahrzehntenlangen akademischen Karriere. So erscheint das Lexikon wie das Protokoll einer ambitionierten akademischen Fleißarbeit und bietet nur sehr begrenzten Erkenntnisgewinn.

Das Taschenbuch hat 320 Seiten und erscheint bei Bärenreiter für sportliche 24,95 Euro.

9 Gedanken zu „Buch: „Lexikon Musiklehre“ von Clemens Kühn

  1. …das erinnert mich irgendwie an die story des japanischen soldaten der jahrzente lang im dschungel einer einsamen insel zubrachte in der meinung der krieg würde noch andauern…
    schon erstaunlich wie man sich in einem elfenbeinturm so von der aussenwelt abschotten kann; es zeigt aber wiederum auch, dass alles nur eine interpretation der persönlichen wahrnehmung ist; obacht ud jetzt zitiere ich nen farbigen Mann aus einer für diesen mann höchstwahrscheinlich nicht real existierenden parallelwelt “It’s all in your imagination Jake!”

      • Ich schätze Kühn als Autor und dieser Artikel hat mich darauf hingewiesen, dass es ein neues Buch von ihm gibt, also will ich es lesen, wie die vorigen.
        Ich würde denken, dass bei ihm völlig klar ist, dass er ein Musiktheoretiker der traditionellen Musik, 1600-1900 ist; gut, der Titel des Buches verspricht dann vielleicht zu viel. Aber vor diesem Hintergrund kann ich mir denken dass das ein sehr gutes Buch ist, und meine Erfahrung als Musiktheoriedozent an verschiedenen Hochschulen zeigt immer wieder, dass ein Lexikon für Grundbegriffe immer noch Not tut. Insofern lege ich einige Hoffnung in dieses Buch.

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