Erfahrungsbericht: Wo findet eigentlich (pop)musikwissenschaftlicher Diskurs statt?

Meine Studienzeit liegt schon eine Weile zurück. Als ich das (Zweit-)Studium der Musikwissenschaft an der bayerischen Universität meiner Heimatstadt antrat, hatte ich gerade das Diplom an einer Hochschule für Musik absolviert. Es war ein praktisch orientiertes Studium gewesen, abgesehen vom Hauptfach, wo man den Lehrer zweimal die Woche in einer Eins-zu-eins Situation gegenüber saß, hatte es kaum Gelegenheiten für einen erweiterten fachlichen Austausch gegeben. Musikpädagogische Erfahrungen sammelte man alleine, es wurde kaum etwas empfohlen, besprochen oder diskutiert. Aus diesem Grund hatte ich mich auch für ein anschließendes, geisteswissenschaftliches Studienfach entschieden. Für mich gab es mit dem Beginn des Zweitstudiums einiges nachzuholen. Insbesondere in meinen Nebenfächern Amerikanistik und Kulturwissenschaft englischsprachiger Länder gab es bergeweise Texte aus mehr als 500 Jahren zu lesen. Ich richtete mich dabei nach einer Liste von Titeln die im ersten Semester an alle Studierenden als kleines, kopiertes Heftchen ausgegeben worden war. Ob man diese Titel gelesen hatte, interessierte im weiteren Verlauf aber dann niemanden mehr. Im Grundstudium wurden in den Einführungskursen und Proseminaren verschiedene Themen an die Kursteilnehmer verteilt, man musste ein Referat darüber halten und am Ende des Semesters eine Seminararbeit abgeben. Lehrbeauftragte waren gestresst und hatten kaum Zeit, Professoren waren so gut wie nicht ansprechbar. So ging es im Hauptstudium weiter: Vorlesung und Seminar besuchen, Referate der Mitstudierenden anhören, Seminararbeit schreiben und abgeben, Schein abholen. Meinungsaustausch oder Diskussionen gab es nicht.

Im Fach Musikwissenschaft wurde mir aufgrund meines Diploms das Grundstudium erlassen. Im Hauptstudium lief es dann allerdings ähnlich ab wie in meinen Nebenfächern: Vorlesungen besuchen und 90 Minuten zuhören, wie ein Professor schwer verständlich aus seinem Manuskript abliest, Hauptseminare besuchen, Referate der Mitstudierenden anhören, Seminararbeit schreiben, abgeben, Schein abholen, fertig.

Weil ich bereits mein Zweitstudium belegte, war ich schon etwas älter als die meisten meiner Kommilitonen, ich arbeitete damals schon seit mehreren Jahren als Instrumentallehrer und freier Musiker. Das Studium belegte ich nicht in erster Linie, um einen Abschluss zu erlangen, sondern aus prinzipiellem Interesse am Fach. Ich reagierte deswegen oft ungehalten, wenn ich den Weg zur Uni auf mich genommen hatte, vielleicht eigene berufliche Termine verlegt hatte um dann von Mitstudenten, Lehrbeauftragten oder Professoren mitunter unengagierte, bräsige Vorträge anhören zu müssen. Für Seminarteilnehmer und Professoren muss ich ein unangenehmer und lästiger Student gewesen sein. Am Ende solcher Vorträge begann ich aus Langeweile und zum Spaß, Fragen zu stellen, Ideen zu äußern, unfertige Theorien zu entwickeln, ich wollte mich unterhalten, diskutieren, mit offenem Ausgang streiten. Immer wieder hatte ich gehört, dass der Sinn eines Studiums sei zu einer eigenständigen, kritischen Persönlichkeit heranzureifen. Aber Diskussionen waren nicht erwünscht, sie wurden nicht befördert und sportlich mit Argumenten ausgetragen, nein, ihnen wurde kein Raum gegeben, sie wurden abgewürgt, unkonventionelle Fragen oder provokante Ideen waren nicht erwünscht, es gab keine offenen Foren für (musik-)wissenschaftlichen Austausch, keine offiziellen oder inoffiziellen Begegnungsstätten. Stattdessen wurden etablierte, akademische Hierarchien gepflegt, auf Titel und Werdegang wurde genau geachtet. Professoren waren „untouchable“, angeblich immer im Stress, für normale Studierende im laufenden Semester kaum erreichbar, in den Semesterferien schlicht nicht da. Ihnen wurde zugearbeitet von Privatdozenten, Doktoranten, Sekretärinnen, HiWis und Tutoren, ein opportunistisches Verhalten förderndes System in dem keiner etwas riskieren wollte/konnte, denn die Stellen sind schwer umkämpft. Kein Platz also für offenen (musik-)wissenschaftlichen Diskurs.

Von Seiten einiger weniger Lehrbeauftragten und Mitstudenten hatte es ein paar Lichtblicke gegeben, im Großen und Ganzen war ich von den Strukturen jedoch maßlos enttäuscht, von meinen Fächern aber nach wie vor begeistert. Nach dem Ende meines Magisterstudiums brauchte ich deswegen etwas Abstand und stellte für mich fest, dass die konservativen, festgefahrenen Strukturen vielleicht eine Besonderheit meiner Alma Mater gewesen sein könnten. Mittlerweile war mir klarer, wohin sich mein fachliches Interesse ausrichtete, ich begann entsprechende Fachliteratur zu sammeln, mich einzulesen, vereinbarte Termine, führte Gespräche und fand schließlich einen Doktorvater, der bereit war mein Promotionsprojekt zu betreuen.

Während der Promotionszeit war ich Externer, das heißt, ich hatte während der Zeit keinen Job oder Lehrauftrag an der Hochschule. Das ist ungewöhnlich, meist sind eine befristete Anstellung und die Möglichkeit zur Promotion in Deutschland eng miteinander verknüpft. Zumeist ergeben sich daraus ungesunde Abhängigkeiten zwischen Doktorand und Betreuer. Bei mir stand das nicht zur Debatte, weil eine entsprechende Stelle nicht existierte und für mich auch nicht von besonderem Interesse gewesen wäre. Ich verdiente mein Geld zu dem Zeitpunkt auf sehr angenehme Weise als Instrumentalpädagoge und freier Musiker. Mein spezieller Status brachte aber auch organisatorische Nachteile mit sich. Andere Promotionsstudenten, die Mo-Fr im Vor- oder Nebenzimmer ihres Profs verbrachten, waren dauerhaft und topaktuell über neuste Entwicklungen informiert, weil der Informationsfluss der Fakultät mehr oder weniger über ihren Schreibtisch ging bzw. sie beim gemeinsamen Kaffee oder Mittagsessen davon Wind bekamen. Im Gegenzug wurden sie allerdings ständig durch auferlegte Handlangertätigkeiten von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten. Meist hatten (und haben) sie halbe Stellen, verrichten aber die Arbeit ganzer Stellen, ihre wissenschaftlichen Arbeiten kommen nicht vom Fleck, sie müssen an Abenden, Wochenenden und im Urlaub schreiben. Oft ziehen sich ihre Doktorarbeiten über viele Jahre in die Länge, manche werden damit nie fertig.

Ich konnte mir dagegen meine Zeit frei einteilen, bekam aber viele Dinge zu spät oder gar nicht mit. Ich versuchte meinen Betreuer wenigstens ein bis zwei Mal im laufenden Semester zu sehen, ihm eine Arbeitsprobe zuzumailen und bei einem gemeinsamen Mittagessen zu besprechen. Obwohl ich Doktorand war, war es für mich aber fast immer schwer einen Termin zu bekommen. Oft lagen zwischen dem Versenden der Arbeitsprobe und einer konkreten inhaltlichen Fragestellung 2-3 Wochen. In der Zeit hatte ich längst eine eigene Antwort gefunden, eine Lösung improvisiert und weitergeschrieben, bei den Treffs hatte ich längst neue Themen zu besprechen, aber eine neuere Arbeitsprobe hatte der Betreuer nicht mehr bekommen, nicht ausgedruckt, nicht gelesen.
Noch mehr als im Grund- und Hauptstudium fehlte mir ein verlässlicher Ansprechpartner, ein erfahrenes Gegenüber, ich verlor unheimlich viel Zeit, weil ich Umwege machte, im Nebel rumstocherte, an Lappalien kleben blieb, vermeidbare Fehler machte. Ich fuhr deswegen zu Tagungen und Kongressen, hielt Vorträge, hörte mir andere Vorträge an. Die Hierarchien zwischen etablierten Professoren, Privatdozenten, Doktoranten und einfachen Studenten war dort dieselbe wie an Uni und Hochschule meiner Heimatstadt. Professoren blieben unter sich, es herrschte vollkommene Ellbogenmentalität, Buckeln nach oben, Treten nach unten. Es gab hier punktuellen wissenschaftlichen Austausch, aber die Themen waren extrem speziell, die Zeit extrem knapp (20-30 Minuten Vortrag, 10-15 Minuten Diskussion). Die wohl wichtigste Erfahrung war, dass sich andere zum Teil in viel prekäreren Situationen befanden als ich (Geldnot, Zeitnot, schlechte Stimmung, Isolation etc.).

Im Nachgang werden einige ausgewählte Vorträge solcher Tagungen verschriftlicht und in einem Jahrbuch oder Tagungsband zusammengefasst. Der erscheint dann meist 12-18 Monate später als Buch, ist also alles andere als eine unmittelbare Äußerung, sondern eine komplett ausgearbeitete und abgesicherte These. Es kommt dazu, dass das Schreiben eines Artikels nicht finanziell honoriert wird, das heißt, ein Autor schreibt je nach Aufwand ca. 2-6 Wochen ohne jede Bezahlung an solch einem Text. Das können sich festangestellte Professoren leisten, Doktoranden und einfache Studenten eher nicht, die schreiben ja bereits an ihren Promotionsschriften, Master- und Bachelorarbeiten ohne was dafür zu bekommen.

Ich kann mich erinnern, dass mein Betreuer kurz vor der Abgabe meiner Promotionsschrift ein paar Kollegen aus dem Flur zusammentrommelte, um für mich als Zuhörer zur Verfügung zu stehen. Ich referierte eine ca. 30-minütige Zusammenfassung meines Themas an dem ich bis dahin ca. 6 Jahre recherchiert und über das ich 400 Seiten geschrieben hatte. Es kamen schließlich drei von vielen Eingeladenen, einer davon kam später, eine andere musste früher gehen, mein Betreuer war die ganze Zeit da, mit meinem popmusikalischen Thema war keiner im Ansatz vertraut. Vielmehr inhaltlichen Austausch gab es kaum, mit dem Vorsitzenden des Promotionsausschusses ging es meist um Termine und Formalitäten (Ist eine Veröffentlichung als E-Book erlaubt oder eine kostenintensive Printversion erforderlich?). Ähnlich lief es auch während der Prüfung. Alle beteiligten Prüfer hatten sichtlich Angst, sich mit einer verfänglichen Frage vor den Kollegen und dem Protokollführer zu blamieren. Ich war inhaltlich auf eine Verteidigung meiner These eingestellt, ein Diskurs oder eine Diskussion, die diesen Namen verdient, entstand an diesem Tag leider nicht. Ich bin von keinem der Beteiligten jemals wieder auf mein Promotionsthema angesprochen worden.

Nach diesen diversen Erfahrungen stellte ich mir nach Abschluss meiner Dissertation die Frage: Wo findet eigentlich musikwissenschaftlicher Diskurs statt?
Mein Studienverlauf hatte mir gezeigt, dass ein Diskurs nicht in den Vorlesungen und Seminaren von Hochschulen und Universitäten stattfindet, jeder arbeitet für sich, es gibt kaum Austausch, kein Interesse aneinander, keine Fragestunde, Sprechstunden sind knapp bemessen, seit der Bolognareform zählen noch mehr als bereits vorher Noten, Punkte, Scheine. Diskussionen gelten als Zeitverschwendung.
Unmittelbar findet ein Diskurs meiner Erfahrung nach auch nicht bei Kongressen und Tagungen statt, dazu sind derlei Veranstaltungen schon strukturell viel zu exklusiv (Anreisekosten, Übernachtungskosten, Eintrittsgeld zum Teil selbst für Referenten), kaum zirkulierende Ankündigungen, extrem langfristige Planung. Die Professoren bleiben bei solchen Veranstaltungen gerne unter sich, für aufstrebende, aufstrebende Kräfte ist es ein Präsentationsforum, eine Jobmesse, ein Who’s who, es geht dabei nicht in erster Linie um Inhalte oder Argumente.
Auffällig ist auch, dass es flächendeckend nahezu keine Kritik musikwissenschaftlicher Literatur gibt. In den Feuilletons oder Wissensteilen etablierter Zeitungen und Zeitschriften werden solche Inhalte fast gar nicht besprochen. Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften sind für Externe quasi unzugänglich (ein Artikel im Journal of Popular Music Studies kostet als PDF im Moment 38 $), Tagungsbände und Artikelkompilationen haben exorbitante Preise. In den allermeisten Fällen haben die Autoren keine eigenen Webseiten, stattdessen standardisierte und oft deutlich veraltete CVs auf dem eigenen Uni-Server, von einem Blog mit Kommentarfunktion ganz zu schweigen. Ganz offensichtlich besteht von Seiten der Autoren auch kein Interesse die eigenen Texte auf digitaler Ebene einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Selbst Fachkollegen haben andererseits auch keine Zeit und/oder kein Interesse, derartige Texte zu lesen, allenfalls ein sog. Abstract, eine ca. halbseitige Zusammenfassung. Bestenfalls können die Autoren einen Kollegen oder eine Kollegin überreden, wenigstens einen ankündigungsartigen Text zu verfassen. Auf eine Buchveröffentlichung substanziell reagieren, eine alternative Sichtweise aufzeigen? Warum sich die Arbeit machen, warum sich Kollegen zu Gegnern machen, warum Gräben aufreißen? Es gibt umfangreiche, aufwändige Sammelbände, die Monate und Jahre nach Erscheinen keine einzige Kundenrezension beim führenden Versandbuchhändler Amazon vorweisen können. Startet man eine Google-Suche, findet man außer auf den Verlagsseiten keine weitere Erwähnung. Die Leute arbeiten einsam und isoliert vor sich hin, reagieren nicht auf die Thesen anderer und ärgern sich vermutlich selbst darüber keine Reaktionen hervorgerufen zu haben.

Ich habe bald festgestellt, dass es für mich als berufstätigen Externen schwierig bis unmöglich ist, wissenschaftliche Aufsätze im Printformat zu veröffentlichen. Die Recherche ist aufwändig, es dauert bis eine These entwickelt und ein Text wasserdicht formuliert ist, man kann das Manuskript dann einreichen, eventuell wird es abgelehnt, vielleicht nach weiteren Veränderungen angenommen, dann erscheint der Text 12-24 Monate später in Kleinstauflage in einem Sammelband zum Preis von ca. 35-70 Euro, es gibt keine Werbung, keine Besprechungen, keine Reaktionen. Durchblättern werden das Buch wohl nur die Autoren, die einen Beitrag geleistet haben, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich drin sind, an den Text werden sie sich im Detail kaum noch erinnern können, es ist zu lange her. Als Außenstehender könnte man sich fragen, warum tun sich die Autoren so was dann überhaupt an? Tja, die Antwort ist, sie haben keine andere Wahl, wenn sie eine wissenschaftliche Stelle im deutschen Bildungssystem haben wollen. In der deutschen Geisteswissenschaft ist die Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen die harte Währung, in der gezahlt wird, nach der Professuren vergeben werden. Und da kommt es nicht einmal in zweiter Linie auf den Inhalt und schon gar nicht auf den vorhergehenden oder folgenden Diskurs an. Die Texte liest – wie gesagt – sowieso kaum einer. Die Anzahl und Orte der Veröffentlichungen werden wie Trophäen gesammelt, es zählt der sogenannte Hirschindex oder Hirschfaktor.

Dissertation und Promotion liegen mittlerweile seit einigen Jahren hinter mir. Auf die Veröffentlichung meiner Promotionsschrift gab es keine Anfragen, Rezensionen oder Kommentare, es ist fast so, als hätte ich nie etwas geschrieben oder veröffentlicht. Seitdem habe ich einige wissenschaftliche Artikel zu anderen Themen verfasst, die zum Teil veröffentlicht wurden. Auch sie haben keinerlei Resonanz hervorgerufen.

Im weiteren Verlauf habe ich mich auf einige Stellen als wissenschaftlicher Mitarbeiter beworben, aber das gestaltete sich schwierig. Die meisten Stellen sind keine Vollzeitstellen und zusätzlich zeitlich befristet, weil an konkrete Projekte gebunden. Die Fristen bewegen sich in der Regel zwischen 6-9 Monaten bis bestenfalls 2-3 Jahren. Verglichen mit meiner Tätigkeit als Instrumentalpädagoge und freier Musiker wäre das in den allermeisten Fällen eine deutliche finanzielle Verschlechterung. Hinzu kämen Pendlerei, Umzug, Verlust vieler beruflicher und sozialer Kontakte, aber ich hätte das auf mich genommen, um endlich mal nicht Externer zu sein, sondern mit kompetenten Vorgesetzten und engagierten Fachkollegen eventuell sogar in einem Team einer konkreten Aufgabenstellung nachzugehen, die fachlichen Austausch ermöglicht und am Ende vielleicht etwas Aufmerksamkeit auf sich zieht. Daher habe ich mich immer beworben, wenn die fachlichen Anforderungen einer Stelle sich in etwa mit meiner erworbenen Qualifikation zu decken schienen. Ein paar Mal wurde ich eingeladen, klar, dass man Hin- und Rückfahrt selbst bezahlt, falls eine Übernachtung erforderlich ist, die natürlich auch, Bewerbungsunterlagen bekommt man heutzutage sowieso nicht mehr zurück, man kann schon froh sein, eine schriftliche Absage zu bekommen, wenn es am Ende nicht klappt, Nachfragen während des laufenden Verfahrens sollte man besser unterlassen, egal, ob es sich über Wochen, Monaten oder sogar Jahre hinzieht. Dreimal kam ich angeblich in die letzte Runde, eine Stelle bekam ich nie. Man erfährt normalerweise nicht, woran es gelegen hat, obwohl man es natürlich gerne wissen würde, wahrscheinlich würde es einem auch weiterhelfen. Ich nehme an, dass es bei mir an drei wesentlichen Faktoren scheiterte: Vorangeschrittenes Alter (Bewerbung ab 38), keine Veröffentlichungen in renommierten Journalen und nicht zuletzt mein Familienstand als Vater von vier schulpflichtigen Kindern. Letzteres darf offiziell keine Grund zur Ablehnung sein, ist es aber in der Praxis doch. Es kommt dazu, dass es ziemlich sicher sehr viele Bewerber auf solche Stellen gibt, denn für Vollblutmusikwissenschaftler gibt es beruflich keine Alternative. Vielleicht war’s bei meinen Absagen aber auch was anderes, ich weiß es letztlich nicht.

Im Anschluss an mein Promotionsstudium, habe ich Hochschule und Uni nur noch besucht, um den Verpflichtungen eines Lehrauftrags und eines jährlichen Vortrags zum Thema „Als Musiker erfolgreich selbständig sein“ vor Studierenden nachzukommen. Auf meine Frage warum ausgerechnet ich dafür Jahr um Jahr wieder angefragt werde, obwohl meine wissenschaftliche Expertise doch auf einem vollkommen anderen Gebiet liegt, wurde mir vom verantwortlichen Professor wiederholt mitgeteilt, ich sei nun mal der einzige kommerziell erfolgreiche Musiker, den er persönlich kenne, und er sei deswegen froh, wenn ich das Seminar übernehmen würde. Auf meine erworbene Fachqualifikation als promovierter Musikwissenschaftler bin ich weder an Hochschule noch an der Universität von niemandem jemals wieder angesprochen worden. Der Lehrauftrag an der Universität wurde kurz nach meiner Promotion nicht mehr vergeben. Ein Grund dafür wurde mir nie mitgeteilt, ich habe von Studierenden davon erfahren. Die Fächer, die ich betreut habe, (Gehörbildung, Songwriting) gibt es dort inzwischen nicht mehr.

Trotz dieser diversen Enttäuschungen hat mein Interesse an der Erforschung musikalischer und musikwissenschaftlicher Themen und Problemstellungen nicht nachgelassen. Neben meinem Broterwerb als Musikpädagoge und freier Musiker (mit der Zeit immer freier), habe ich Konzert- und Interviewreihen betreut, Talkshows moderiert, Dokumentarfilme, Musikvideos und Musikalben produziert, musikalische Reisen dokumentiert, Musikmuseen und Instrumentenwerkstätten besucht, langjährigen Austausch mit Künstlern, Musikern und Ästheten gepflegt. Anfang 2013 fand sich dann endlich auch das Medium um diese diversen Aktivitäten zu dokumentieren: Ich startete den Dennis Schütze Blog, auf dem alles in Schrift, Bild und Ton nachzulesen ist. Ziemlich bald nahmen Rezensionen und Kritiken mehr und mehr Platz ein. Zuerst waren es Konzert- und Albumbesprechungen, mit der Zeit rückten immer deutlicher Noten-, Buch- und Fachbuchbesprechungen in den Vordergrund. Seit mehreren Jahren bekomme ich auf Anfrage musikpädagogische sowie musik- und kulturwissenschaftliche Fachbücher von verschiedenen Verlagen zugeschickt, lese sie, mache mir Notizen und bespreche sie dann mehr oder weniger ausführlich auf meinem Blog. Mein Blog wird täglich von ca. 50-200 Einzelpersonen aufgerufen. Es gibt regelmäßige Besucher, die meist die letzten 2-3 Artikel zur Kenntnis nehmen, eventuell auch lesen und kommentieren. Und es gibt Leser, die dezidiert einen Artikel aufrufen, entweder kommen sie über einen externen Link oder finden den Artikel per Schlagwort über die Suchfunktion.

Parallel zum Blogartikel werden die Rezensionstexte von mir beim führenden Buchversand Amazon als Kundenrezension mit Sternewertung eingestellt und entfalten dort oftmals eine enorme Wirkung. Das liegt daran, dass es zu Fachbüchern sehr selten andere Rezensionen gibt und so kommt einer einzelnen, ausführlichen Besprechung eben eine umso bedeutendere Rolle zu. Allerdings kommt es bei den Kundenrezensionen nur selten zu weiterführender Kommentierung, obwohl dies möglich wäre. Auf dem Blog sind die Leser kommentarfreudiger, man rechnet allgemein mit ca. einem Kommentar pro 50-100 Lesern. Die Hemmschwelle ist niedriger, wenn die Leser den Blog kennen und ihnen inhaltliche Ausrichtung und sprachlicher Umgangston des Betreibers und anderer Kommentatoren vertraut sind. Die entsprechenden Verlage bekommen ausnahmslos einen Hinweis mit Link unmittelbar nach Veröffentlichung des Artikels. Meist bekommt man kurze Dankesmails von irgendwelchen freundlichen PR-Damen, bei wissenschaftlichen Verlagen allerdings eher nicht. Rezensierte Autoren melden sich selten bis nie, sie halten sich vornehm zurück, man weiß meist nicht einmal, ob sie die Rezension überhaupt zur Kenntnis genommen haben. Schwierig wird es mitunter, wenn die Rezension eine zwar ausführlich begründete, aber für den Autor ungünstige, weil nicht positive Beurteilung enthält. Und besonders schwierig wird es, wenn der Autor ein ambitionierter Professor ist und zwischen sich und dem Rezensenten ein hierarchisches Gefälle erkennt. Eine negative Rezension, wie auch immer sachlich begründet, wird da gleich als ruf- und geschäftsschädigend begriffen und entsprechend Versuche unternommen das Schlimmste zu verhindern. Ich versuche in solchen Fällen regelmäßig, die Unstimmigkeiten auf eine Sach- und Faktenebene zu heben und biete die Veröffentlichung einer Gegendarstellung im Blog an. Diese Möglichkeit wurde erst einmal in Anspruch genommen. Andere Autoren wandten sich beleidigt ab, eine positive Rezension hätten sie stillschweigend hingenommen, Interesse an einer sachlichen Auseinandersetzung besteht meist nicht.

Neben den Rezensionen gibt es aber auch noch andere Beiträge wie Essays, Glossen, Kurzgeschichten, Interviews, Werkstattbesuche, Reisereportagen, Berichte von Tagungen, Ausstellungen, Messen, Fotoserien, Tätigkeitsprotokolle, Arbeitsergebnisse, Vorankündigungen, Nachbesprechungen, etc. Die Blogartikel sind mal wissenschaftlich, mal journalistisch, mal literarisch, mal rein informativ und decken somit ein breites Spektrum ab (erst Anfang dieser Woche habe ich auf dem Blog Kulturtechno des Komponisten Johannes Kreidler erstmals vom Schlagwort der sog. „Künstlerischen Forschung“ gehört, der in diesem Zusammenhang evtl. angebracht sein könnte). Gemeinsam haben sie, dass sie von mir verfasst wurden und meine persönliche Wahrnehmung von Pop, Musik und Kultur abbilden, so wie es sich für einen Blog gehört natürlich mit einer sachlichen, aber durchaus subjektiv gefärbten Sichtweise. Ich nehme für mich in Anspruch, dabei unvoreingenommen und fair mit den Personen und Gegenständen meiner Betrachtung umzugehen. Ich bekomme mal mehr, mal weniger Feedback, z.B. in Form von Kommentaren, aber auch durch Zitierung, Verlinkung, Rezensionsanfragen bis hin zu konkreten Arbeitsaufträgen. Ich versuche damit, meinen Beitrag zu einem offenen Diskurs im Rahmen der mir gebotenen Möglichkeiten zu leisten. Das ist vielleicht nicht viel, aber trotzdem mehr, als ich jemals mit meiner akademischen Arbeit bewirken konnte. Ich bin sowohl digital, als auch sozial gut vernetzt und große Teile meiner publizistischen Arbeit basieren auf genau dieser Vernetzung. Ich musste jedoch feststellen, dass eine Vernetzung mit Vertretern akademischer Institutionen zu keinem Zeitpunkt erwünscht gewesen ist. Mein Eindruck ist, dass ich mit dieser Erfahrung nicht alleine da stehe, sondern dass sie auf einem strukturellen und systematischen Missstand der deutschen Musikwissenschaft, ja, eventuell sogar der gesamten deutschen Geisteswissenschaft beruht, der jungen Akademikern und externen Forschern viele interessante Themen, Zugänge, Kontakte, Austauschmöglichkeiten und Entwicklungen bewusst verbaut. Aber auch für die andere, die institutionell etablierte Seite, stellt dieser Umgang mit Nachwuchs und Fachkollegen einen dramatischen Verlust dar, viele gute Ideen, Gedanken und Anregungen bleiben dabei auf der Strecke, werden so nie oder viel zu spät in den Institutionen ankommen, obwohl sie klug und vernünftig sind und eine vielversprechende Brücke darstellen würden zwischen Elfenbeinturm und Streetknowledge.

Warum der Diskurs von institutioneller Seite so rigoros verweigert wird, kann ich nicht sagen. Ich vermute, dass es mit Angst vor Autoritäts- und Machtverlust und Verlust von Deutungshoheit zusammenhängt. Vorteilhaft ist diese Diskursverweigerung genaugenommen für niemanden, außer vielleicht für arriviertes, akademisches Führungspersonal, das seine Pfründe absichern will und einfach keine Lust und Kraft mehr hat, sich nach einem langen und beschwerlichen Weg nach oben noch für irgendetwas rechtfertigen. Das etablierte Wissenschaftsbild soll nicht angetastet, nicht mehr verändert und schon gar nicht in Frage gestellt werden. Es ist ja eine altbekannte Weisheit, dass Experten sich dadurch auszeichnen, dass sie aufhören, Fragen zu stellen, weil sie bereits für alles eine Antwort haben. Fragen, auf die sie keine Antwort haben, werden einfach als irrelevant deklariert (sonst hätten sie ja eine passende Antwort). Einen ergebnisoffenen Diskurs führen nach meiner Erfahrung ausschließlich Laien und Amateure, von Expertenseite ist er nicht erwünscht. Allerdings kommt man so aus wissenschaftlicher Sicht nicht weiter und fängt an, sich im Kreis zu drehen. Um das zu kaschieren wird immer weiter fragmentiert und spezialisiert, bis selbst Fachleute und Experten keine gemeinsame Ebene mehr haben. Alle sind rege, forschen, schreiben, veröffentlichen, aber es gibt niemanden mehr, der das Geschriebene noch zur Kenntnis nehmen würde: Durchgetretenes Gaspedal im kompletten Leerlauf. Und alle wundern sich, dass sie nicht vom Fleck kommen.

Wann fällt das eigentlich mal jemandem auf? Und wie kann man das vielleicht ändern und normalisieren? Vielleicht indem wir anfangen einander zuhören und miteinander zu reden.


Ein erster Entwurf dieses Textes entstand im Dezember 2014 und erschien aber erst im Januar 2016 auf diesem Blog. Im Frühjahr 2016 wurde ein Abstract davon als freies beitrag für die 26. Arbeitstagung der Gesellschaft für Popularmusikforschung (GfPM) eingereicht und angenommen. Zu diesem Anlass wurde der Text überarbeitet und um einen Schlussteil erweitert. (Lektorat: Stefan Hetzel)

5 Gedanken zu „Erfahrungsbericht: Wo findet eigentlich (pop)musikwissenschaftlicher Diskurs statt?

  1. Schöner Text. Größtenteils stimmen deine Beobachtungen leider auch für die Naturwissenschaften (inkl. und insbesondere Medizin) – wir haben also ein sehr breitbandiges Problem an den Hochschulen.
    Ich bin sehr gespannt, wie die Resonanz bei der Tagung (und abseits davon, falls existent) ausfällt und hoffe, dass du uns auch darüber einen Abriss veröffentlichst.

    Hast du eigentlich schon mal darüber nachgedacht, einen (Laien-)Debattierclub/-Stammtisch/-whatever zu dem Thema zu gründen?

  2. @Sven gute Idee mit dem Hobbyphilosophenklugscheisserstammtisch (ernst gemeint, finde ich auch gut, aber mein Spässchen sehe ich eher in der Hilflosigkeit und Wirkungslosigkeit solcher Veranstaltungen begründet, nehme sie aber dennoch gerne wahr; man wird halt Fatalist mit zunehmendem Alter 🙂 )
    ..der Fehler steckt im System und nicht nur in dem von dir (Dennis) beschriebenen Teil der Musikwissenschaften. Die Angst vor einer Veränderung sehe auch ich als größtes Hemmnis der Veränderung! Mal im größeren Kontext betrachtet glaube ich vielmehr, dass die Parallelwelt so allumfassend ist, dass ich mir schon manchmal wahrlich in einer Matrix vorkomme – jeder weiss dass das z.B. kapitalistische/(schein)demokratische System mit all seinen Unterstrukturen (bspw. Versicherungssysteme, Energiewirtschaft, Rüstung, Wachstum usw.) so ineinander verwoben ist und damit auch labil, so dass nur von einer zur nächsten Krise funktionieren kann – aber keiner wagt es daran zu rühren, weil es sonst kollabiert.
    Interessant finde ich die Machtverschiebung innerhalb des Systems in den letzten Jahren, wodurch auch die momentan recht krassen politischen Ereignisse fussen, die letzendlich aber auch nur logische Folge des Systemfehlers oder fehlerhaften Systems sind.
    hierzu zwei plausible Erklärungsansätze. https://www.youtube.com/watch?v=eb5vjqG72fY
    oder auch das Ende der Megamaschine http://www.megamaschine.org

  3. Hallo Dennis,
    diesmal unterm richtigen Text, der Kommentar ;-).
    Nach wie vor finde ich Deinen Beitrag zum musikwissenschaftlichen Diskurs äußerst anregend, wobei ich mich noch mehr mit dem Modell der “künstlerischen Forschung” beschäftigen muss.
    Vielleicht ist das ein Lichtstreif auch für fremdgehende Literaturwissenschaftler.

    Ich kann mich nur von der literaturwissenschaftlichen Seite aus einbringen, wo es natürlich auch einen Trend zur immer weitergeführten Spezialisierung gibt – und ein absolutes No-go die Frage ist, was der Text uns “eigentlich” sagen will…
    Doch Gott sei Dank hatte ich aber das große Glück, wirklichen Austausch und offene Diskussionskultur erleben zu dürfen.
    Vielleicht waren da ein paar Outsider beisammen – aber wir waren richtig beisammen!
    Dafür bin ich heute noch dankbar.
    Allerdings bin ich leider nicht mehr in den aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskurs eingebunden.
    Andererseits: man kann sich auch wie ein Alien im Berufsalltag fühlen (weit entfernt von jeglicher literaturwissenschaftlichen Komponente), einfach weil einmal erworbene Bildung prägt und in gewissem Sinne auch “brandmarkt”.
    So ist es nach beiden Seiten ein Getingel zwischen den Welten.

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