Buch: „Jazz-Standards“ von Hans-Jürgen Schaal (Hg.)

Das Lexikon „Jazz-Standards“, herausgegeben von dem deutschen Jazz-Journalisten Hans-Jürgen Schaal, erschien erstmals 2001 und wurde seitdem alle paar Jahre wiederaufgelegt. 2015 wurde die mittlerweile 6. unüberarbeitete (!) und nicht erweiterte (!) Auflage veröffentlicht und das sagt viel über den Zustand des Jazz und seiner Geschichtsschreibung aus. Denn kann es sein, dass sich der Kanon der angeblichen Jazz-Standards seit der Jahrtausendwende kein bisschen verändert hat? Ist nichts davon weniger bedeutend geworden, hat sich keine Interpretation gewandelt und vor allem: Ist wirklich nichts Neues dazu gekommen? Hier gewinnt man jedenfalls den Eindruck Jazz ist spätestens seit Ende der 1980er Jahre ein abgeschlossenes, akademisches Untersuchungsfeld, in dem alle, wirklich wichtigen Fragen endgültig beantwortet sind.

Das Buch ist angelegt wie ein klassisches lexikalisches Nachschlagewerk, die Standards sind alphabetisch nach Songtitel sortiert und werden abwechselnd in Einzelartikeln besprochen. Die Autoren setzen sich zusammen aus einer Gruppe studierter, meist süddeutscher Jazzschreiber, zumeist in den 1960ern geboren. Die Artikel verzeichnen die mehr oder weniger offensichtlichen Stammdaten wie Titel, Komponist, Texter, Copyright, Verlag und einige wichtige Aufnahmen, dazu kommt je nachdem eine kleine Form- oder Harmonieanalyse, ein musikhistorisches Abriss und eine Rezeptionsgeschichte. Für Nachgeborene ist vielleicht vor allem interessant in welcher Reihenfolge wesentliche musikalische Interpretationen entstanden und welche davon als „amtlich“ abgesegnet allgemeine Bedeutung erlangten. Die Artikel sind informativ und angenehm zu lesen, man hat den Eindruck, dass die Autoren mit Herz und Verstand dabei sind und sich ausgiebig mit der Materie befasst haben.

Allerdings kann man sich bei der Lektüre heutzutage des Eindrucks nicht erwehren, dass die gesamte Betrachtung in erster Linie rückwärtsgewandt angelegt zu sein scheint und unfreiwillig eine Linie, ja, einen Abschluss bildet. Man muss schon erweitertes jazzmusikhistorisches Interesse mitbringen um der Entwicklungsgeschichte einzelner Jazz-Standards so genau nachspüren zu wollen. Und wenn einen das tatsächlich interessiert, gibt es heute dank Internet diversere und vielseitigere Quellen. Eine kurze Recherche beim (englischsprachigen) Wikipedia und das schnelle Nachhören der Studioeinspielungen bei einem Download oder Streamingdienst oder die Betrachtung einer Liveeinspielung bei Youtube bieten da ein vielleicht unsortierteren, aber deutlich lebendigeren und somit zeitgemäßeren Eindruck von der unendlichen Vielfalt der Interpretationen.

Fazit: So wie es ist, ist das Lexikon der Jazz-Standards ein nettes Nachschlagewerk für bibliophile Freunde des historisches Jazzideals. Leider ist es auch das papierene Dokument eines statischen und konservativen Blickwinkels deutscher Jazzgeschichtsschreibung. Jazz is not dead! Oder vielleicht doch?

Das gebundene Buch hat 590 Seiten, erscheint bei Bärenreiter und kostet knackige 42,50 Euro.

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